Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
stellte sie ihre Handtasche in der Diele auf den Stuhl und ging direkt ins Arbeitszimmer, um den Anrufbeantworter abzuhören. Aber er piepste nur. Kein Anruf. Kein Anruf von Jon. Sie wählte seine Nummer. Wieder nur der Anrufbeantworter. Allmählich wurde Isabelle unruhig. Im Lufthansa-Büro in der Fifth Avenue, wo sie als nächstes anrief, gab ihr eine freundliche Dame am Telefon die Auskunft, daß die Maschine, mit der Jon am Vortag abgeflogen war, auf die Minute pünktlich angekommen sei.
In Deutschland war es sechs Stunden später als in New York, früher Abend also jetzt in Luisendorf. Isabelle probierte es noch einmal. Vergeblich. Unruhig lief sie hin und her. Sie ging in die Küche, wo Elena am Tisch über eine Klatschzeitung gebeugt saß und las, und ließ sich von ihr ein Evian geben. Mit dem Wasser und einem Glas setzte sie sich in den Salon, trank in großen Schlucken, versuchte in der New York Times zu lesen, legte die Zeitung wieder weg, weil sie sich nicht konzentrieren konnte, starrte auf den Zweitapparat, als könnte sie Jons Anruf herbeizwingen. Aber es läutete nicht.
Die ganze Nacht blieb es still. Isabelle wühlte sich unruhig im Bett hin und her, ständig versucht, noch einmal zu telefonieren, aber wenn Jon jetzt schlief, würde sie ihn nur wecken. Unablässig redete sie sich ein, es habe nichts zu bedeuten, daß er sich nicht meldete, es werde für alles eine harmlose Erklärung geben, morgen, morgen früh. Um drei schlief sie noch immer nicht. Neun Uhr morgens nach europäischer Zeit. Isabelle griff zum Hörer, wählte die Nummer. Endlich! Es klingelte. Gleich würde er abheben und sich melden, sie würde seine vertraute, liebevolle Stimme hören, mit ihm reden. Jon. Geliebter Jon.
Es wurde abgehoben. «Praxis Dr. Rix», sagte eine kühle Frauenstimme.
«Hier ist Belle Corthen.»
«Ja?»
«Belle Corthen. Ich rufe aus New York an. Ich möchte bitte Dr. Rix sprechen.» – Schweigen – «Hallo? Haben Sie mich verstanden?» Ein Knistern in der Leitung. «Dr. Rix: Ist er da?»
«Nein», entgegnete die Frauenstimme.
Isabelle wurde eiskalt, ihre Stimme zitterte, sie war vollkommen übermüdet und nervös. «Wann kann ich ihn denn, ich meine ... sprechen?»
«Es tut mir leid.» Ein Zögern am Ende der Leitung.
«Was ... was tut Ihnen leid? Um Himmels willen, so reden Sie doch!»
«Dr. Rix hatte auf dem Rückflug von New York ... in Frankfurt ... einen Herzanfall.»
Ich sterbe, dachte Isabelle, ich sterbe.
Die Frau sprach weiter, monoton: «Ein Herzinfarkt. Es tut mir leid. Sie können Dr. Rix nicht sprechen. Er ist tot.»
Epilog
Aus. Alles aus und vorbei. Sie lag auf dem Fußboden ihres Schlafzimmers. In einem Jogginganzug, die Beine angezogen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, lag sie, starrte an die Decke, lag einfach da, so, wie sie es als Kinder oft getan hatten, Jon und sie am Rande des Seerosenteiches. Isabelle mußte an ihre Mutter denken, an Ida, die so früh ihren Mann verloren hatte, an Alma Winter und ihre unglückliche Liebe, an Puppe Mandel und ihren Mann, den sie hatte verstecken wollen vor der Welt, damit er bei ihr bliebe, vergebens. Das Leben führt uns an den Rand, aus heiterem Himmel stürzt es uns aus den Höhen hinab, dachte Isabelle, es gibt uns alles, es nimmt uns alles: warum?
Keinen Sinn konnte sie darin erkennen, daß ein freundliches Schicksal ihr Jon geschickt hatte, für eine kurze Zeit, eine Zeit voller Zauber und Geborgenheit, und ihn ihr dann so grausam wieder genommen hatte. So vieles war unausgesprochen geblieben. Im nachhinein aber schien es ihr, als hätten sie in die wenigen Tage, die ihnen gemeinsam vergönnt gewesen waren, alles hineingepreßt, was zwei Menschen glücklich machen kann. Fast, als hätten sie es geahnt. Wußte Jon, daß er so schnell sterben würde? Hatte er sie deshalb aufgesucht? Um alles in Ordnung zu bringen, reinen Tisch zu machen, sich und ihr die Gewißheit zu geben, daß sie es am Ende doch geschafft hatten, sich zu finden, sich zu lieben?
An Gott mußte sie denken, daran, wie Jon, irgendwann, als sie am Strand von Long Island spazierengegangen waren, gesagt hatte, daß jeder Mensch den Zeitpunkt seines Todes mitbestimmen und daß man erst dann friedlich sterben könne, wenn man die Dinge zu einem guten Ende gebracht habe. Und er hatte einen Satz aus den Aufzeichnungen des Augustinus zitiert –Jon, der gläubige Christ: «Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.» Damit war, hatte er ihr erklärt, die Suche nach
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