Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Gott gemeint. «Aber weißt du, Isabelle, letzte Nacht, als ich nicht einschlafen konnte und über uns nachgedacht habe, über dich und mich, da bin ich drauf gekommen ... unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir – das kann man auch anders deuten, anders verstehen. Nicht als Liebe zu Gott allein. Sondern auch als Liebe der Menschen untereinander. Du und ich, wir sind mit unserer unerfüllten Liebe so lange unruhig gewesen, unruhig durchs Leben gerast, bis wir uns endlich gefunden haben. Endlich vereint sind. Wieder vereint.»
Sie konnte zu Gott nicht finden, niemals. Ein Gott, der einem so etwas antat, konnte kein guter Gott sein, er war ein grausamer Gott. In den Qualen, die sie erlitten hatte, lag kein Sinn. Ein halbes Jahr war seitdem verstrichen. Der Sommer, dieser sagenhafte Sommer, war vorbei. Draußen war es kalt, Wind fegte über die Stadt. Novemberregen peitschte lärmend gegen die Fenster. Die Bäume im Central Park waren fast kahl. Schwarzes Geäst, ein dunkler Himmel, düster glänzende Straßen, eine Stadt trug Trauer.
Am Anfang, als sie die schreckliche Nachricht erfahren hatte, wollte sie nicht mehr leben. Isabelle hatte sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, hatte nichts mehr gegessen, selbst Elena war es nicht gelungen, an sie heranzukommen. Sie war nicht nach Deutschland geflogen, zu seiner Beerdigung, das brachte sie nicht fertig. In ihrem Zimmer blieb sie, in ihrem Bett und weinte Tag und Nacht. Fast wäre sie ihrer alten Sucht verfallen, Tabletten zu nehmen, doch sie hatte ihr Versprechen gegenüber Jon im Kopf. Auch über den Tod hinaus wollte sie ihm treu sein. Sie hatte es geschafft, nichts zu nehmen. Sie war stark geblieben.
Den Plan, hier alles aufzugeben, hatte Isabelle zu den Akten gelegt. Was sollte sie noch da drüben? Sich bemitleiden lassen? In schmerzhaften Erinnerungen wühlen? Durch Luisendorf gehen, als seine Witwe? Isabelle war nach ein paar Wochen aufgestanden, hatte sich berappelt, wieder gegessen, war wieder zur Normalität zurückgekehrt. Was man so Normalität nannte. Sie hatte sich in ihrem Arbeitszimmer verkrochen, in den Schränken gestöbert und Dinge zutage gefördert, von denen sie nicht einmal mehr wußte, daß sie sie besaß. Die Bronzeplastik des Jungen, der sich gegen den Wind stemmte, ein Geschenk von Carl. Das Gemälde mit Maria und dem Jesuskind, das er ihr am Tag vor ihrer ersten Modenschau überreicht hatte. Ihr Poesiealbum. Den Brief von Jon und die getrocknete Seerose, die er ihr an jenem Morgen gegeben hatte, als sie mit ihrer Mutter Luisendorf verlassen hatte. Wie Pergament sah die Blüte aus, blaßbraun, zerbrechlich. Isabelle hatte sie in der Hand gehalten und zärtlich mit dem Zeigefinger darübergestrichen. Seine Briefe! Sie hatte nie begriffen, was für liebevolle Botschaften er ihr immer und immer wieder hatte zukommen lassen. Was für ein einzigartiger Mann war er gewesen. Einer unter Tausenden. Und wie dumm war sie gewesen, alles für ihre Gier nach Anerkennung zu opfern, für eine Karriere, an die sich morgen schon niemand mehr erinnerte. Ach, könnte man doch noch einmal von vorn anfangen! Alles würde sie anders machen. Oder?
Es klopfte. Isabelle haßte Elena manchmal. Sie wollte nicht mehr mit ihr unter einem Dach leben. Sie wollte endlich und für immer allein sein. Es klopfte wieder.
«Ja?»
Elena trat ein. «Miss Corthen ...»
Miss Corthen, Miss Corthen, Miss Corthen: Was wollte sie von ihr? Sie setzte sich auf.
«Ich weiß es ja», sagte Elena verzweifelt, «aber Sie haben Besuch!»
«Ich erwarte niemanden, das muß ich Ihnen doch wohl nicht sagen.» Ihre Augen funkelten ungehalten. «Ich erwarte niemanden mehr. Nie-man-den!»
«Bloß, es ist so, daß ...» Elena kam nicht dazu, ihren Satz zu vollenden. Ein großer, gutaussehender Mann Mitte Zwanzig betrat den Raum, schob Elena beiseite.
Isabelle erschrak und sprang auf. «Was ist? Wer sind Sie?»
«Ich ...»
«Was machen Sie hier in meiner Wohnung?»
«Er ...»
Isabelle brachte Elena mit einer Handbewegung zum Schweigen. Sie war außer sich. «Wenn Sie nicht sofort verschwinden, dann rufe ich die Security!» Sie stürmte auf den Mann zu – Elena wich erschrocken zur Seite – und schubste ihn Richtung Tür. Blitzschnell umfaßte er ihre Handgelenke, hielt sie mit starkem Griff fest. Sie schrie.
«Hören Sie auf!» befahl der Fremde.
Isabelle bekam es mit der Angst zu tun. Sie drehte sich zu Elena um, die verschüchtert in der Ecke stand. Was war das? Sie starrte in
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