Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
auf, sie macht einen Spaziergang, was weiß ich.»
«Aber es wird gleich regnen!»
«Ach, laß sie nur», sagte Jon nur und strich mit den Händen geübt sein Haar nach hinten. «Man kann mit ihr nicht reden. Sie macht, was sie will.»
Auf einmal verwandelte sich der Wind in einen Sturm. Eine Zeitung wurde knisternd und knatternd hochgewirbelt und heruntergedrückt, tanzte in der Luft und flatterte über den Platz, bis sie sich in einem Fahrradständer verfing. Daumennagelgroße Wassertropfen klatschten zu Boden, vereinzelt zunächst, dann brach der Regen in die Nacht hinein, trommelnd, schüttend, peitschend. Es blitzte. Jon riß seinen giftgrünen V-Pullover über den Kopf, zog ihn aus und hielt ihn schützend über Isabelle, während sie in das Gebäude zurückrannten. Atemlos und lachend standen sie im Flur. Jons Oberkörper glänzte von der Nässe.
«Ich weiß, was wir jetzt machen!» sagte er leise.
«Ich auch!» Sie gab ihm seinen Pullover zurück. «Danke. Wir gehen wieder runter. Deine Leutchen werden uns schon vermissen zumindest dich.»
Er schüttelte den Kopf und stieg die Treppe hinauf. Sie folgte ihm auf den Dachboden. Jon schaltete das Licht nicht ein. Sie tasteten sich im Dunkeln vorwärts, bis sie auf einem alten Sofa landeten, das Jons Eltern vor Jahren dort abgestellt hatten. Ein paar Minuten später waren sie nackt und hatten Sex miteinander. Schmerzhaft, überwältigend, alles vergessend. Für Isabelle war es das erste Mal. Es hatte in der Schule und auch während ihrer bisherigen Lehrzeit ein paar Jungen gegeben, mit denen sie sich angefreundet hatte – auf ihre Art. Man verabredete sich nach der Schule, der Berufsschule, der Arbeit, traf sich am Wochenende nachmittags oder an frühen Abenden, zu Hause oder an der Elbe, ging in Cliquen zusammen ins Kino, hielt Händchen und knutschte. Ihr Herz – oder gar ihren Verstand – hatte Isabelle dabei nie verloren. Bisher war sie unbeschwert gewesen, flatterhaft und leicht wie ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte fliegt.
Als sie jetzt in Jons Armbeuge lag, seinen Pulsschlag hörte, spürte sie etwas Neues, Unbekanntes, sie vollkommen Erfüllendes: Sie war verliebt. Das Gefühl war süß, schwer, es pochte vom Herzen hoch bis zum Hals, kribbelte, kitzelte, brachte sie zum Lachen, machte sie betrunken und sofort wieder nüchtern, wehmütig, fast ein wenig traurig. Sie seufzte. Jon sagte nichts, sondern streichelte sie, zog sie noch etwas fester an sich. Der Regen prasselte gleichförmig auf das Dach. Zwischendurch donnerte es immer wieder. Blitze schleuderten blaues Licht durch die Lukenfenster, ließen Balken, Kisten, Schränke, all das tote Gerümpel aufleben, als wären es Gestalten aus Grimms Märchen, Hexen, Zauberer, Geister, Gespenster. Isabelle bekam eine Gänsehaut.
«Du frierst ja!» sagte er. «Wir ziehen uns an. Es ist viel zu kalt für dich.»
«Nein», flüsterte sie, «laß uns noch einen Augenblick so liegenbleiben.» Sie küßte seinen Hals. «Es erinnerte mich an früher, als wir hier oben gelegen haben ...»
«Aber angezogen!» unterbrach er Isabelle. Sie lachten.
«Und uns Geschichten erzählt haben.»
«Ich habe so davon geträumt, Isabelle, die ganzen Jahre über. So sehr!»
«Hast du eine Freundin?»
«Bist du verrückt? Glaubst du, ich würde dann hier mit dir ...?»
«Na ja. Spießer!»
«Hast du denn einen Freund?»
Sie erhob sich. «Nein. Keinen richtigen. Also, ich meine ...» Sie setzte sich auf den Rand des Sofas und suchte ihre Kleidungsstücke zusammen.
Jon stand auch auf und half ihr. «Hast du die getrocknete Seerose noch, die ich dir geschenkt habe, als du damals von hier weggezogen bist?»
«Natürlich. In meinem Poesiealbum!» Sie hatte sich fix wieder angezogen. «Aber wo das ist, weiß der Himmel.»
Isabelle traute sich nicht, den drängenden Jon mit in das Pensionszimmer in Schmidts Gasthof zu nehmen. So verbrachten sie die Nacht, vielmehr den schmalen Rest, der noch davon blieb, getrennt. Isabelle schlief sehr lange und bekam von Fritz Schmidt ein köstliches spätes Frühstück in der Schankstube serviert. Gegen Mittag holte Jon sie zu einem ausgedehnten Spaziergang ab. Noch in der Nacht hatte sich das Unwetter verzogen. Es war ein leuchtender Bilderbuch-Herbsttag, und als sie auf den Steinen am Ufer des Seerosenteichs saßen, über die Vergangenheit und auch über die Zukunft sprachen, packte Isabelle eine unerklärliche Traurigkeit. Jon erzählte ihr, daß er nach Kiel gehen und
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