Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Abschied strich sie der Freundin ihres Sohnes sanft über die Wangen, umfaßte ihre Hand und hielt sie lange fest.
Irritiert verließ Isabelle die Küche und ging mit Jon durch das Schulgebäude, wo in einem der Klassenräume sein Vater, auch über ein Buch gebeugt, seinen Studien nachging. Richard Rix war alt geworden. Statt der Haare, die immer so unbezähmbar wild auf dem Hinterkopf gewachsen waren, krisselten sich jetzt nur noch ein paar dünne Strähnen auf dem fast kahlen Schädel.
Isabelle hatte noch immer einen Höllenrespekt vor ihrem Klassenlehrer aus Kindertagen. Doch er begrüßte sie so freundschaftlich und fast überschwenglich, daß sie ihre Scheu schnell ablegte. An ein paar Äußerungen, die zwischen Vater und Sohn kurz und knapp gewechselt wurden, merkte sie, daß es noch immer Spannungen zwischen ihnen gab, obwohl ihr Jon kürzlich geschrieben hatte, er verstehe sich mit seinem Vater jetzt besser. Er tue ihm leid, stand in seinem Brief. Sein Vater sei unglücklich, denn nun, da sein Sohn seine eigenen Wege gehen werde, bleibe ihm nicht mehr viel im Leben.
Das Verhältnis zu seiner Frau war nie mehr in Ordnung gekommen, mehr noch, es hatte sich von Jahr zu Jahr verschlimmert. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Richard Rix widmete sich nur noch dem Unterricht und seinem Hobby, dem Sammeln und Erforschen von Schmetterlingen. Stolz zeigte er Isabelle im Lagerraum der Schule seine Sammlung, aufgespießt und sorgfältig beschriftet in gläsernen Schaukästen.
Als Isabelle sich verabschiedete und die Schule verließ, um sich für die Party umzuziehen, war sie ein wenig deprimiert. Auf dem Weg zu Schmidts Gasthof ging sie an vertrauten Häusern und Plätzen vorbei, und ihre traurige Stimmung verstärkte sich. Schon von weitem erkannte sie «die Zeitung», die ihr auf dem Rad entgegenkam, eine Milchkanne am Lenker baumelnd. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, weder im Aussehen noch in ihrer Art.
«Ich dachte doch schon von ferne: Ist sie's oder ist sie's nicht? Laß dich anschauen. Gut siehst du aus, Isa, Kind, groß geworden, eine Dame, nicht wahr, und so modernig angezogen! Na ja. Großstadt, sag ich immer.»
«Tag, Frau Kröger!»
«Was machst du denn hier? Bei uns? Bist doch jetzt was Besseres, was?» Sie lachte auf. «Ich hab gehört, du arbeitest in einem schnieken Modesalon!»
«Ja. Im zweiten Lehrjahr. Ich bin ...», sie drehte sich kurz nach hinten um und zeigte zum Ende der Dorfstraße, «wegen Jon hier. Er feiert sein Abitur und seinen Geburtstag nach.»
«Jaja. Das hab ich ja schon immer gesagt: daß aus euch noch mal was wird, was?» Sie zwickte Isabelle in die Wange, versuchte sie noch ein bißchen auszuhorchen, trug ihr einen Gruß an Ida auf und fuhr schließlich weiter. Einen Augenblick blieb Isabelle noch auf dem Gehsteig stehen und überlegte sich, ob sie alte Erinnerungen auffrischen und die anderen Plätze ihrer Kindheit aufsuchen sollte: Bäcker Voss, bei dem sie früher jeden Tag gewesen war; Fenskes Hof, auf dem sie Kirschen geklaut hatten; den Friedhof. Sie entschied sich dagegen.
Auch an ihr Elternhaus dachte Isabelle. «Die Zeitung» hatte ihr von dem Lenkwitz-Sohn, der dort nun seit Jahren wohnte, tolle Geschichten erzählt: Das einst so schöne Corthen-Häuschen sei völlig verwahrlost, und hinten im Garten, so hörte man, wüchsen Hasch und andere Drogenpflanzen. Auf einmal packte Isabelle die Wehmut. Die Gartentür, die immer schief in den Angeln gehangen hatte. Der schmale Weg zur Haustür, links und rechts davon Rabatten mit Kissen duftender Sommerblumen. Die Küche mit ihrem Kaffeegeruch. Der Wäscheplatz, auf dem ihre Mutter immer gestanden hatte, einen Weidenkorb zu Füßen, den Beutel mit den Wäscheklammern vor dem Bauch, und weiße Laken, die heftig im Wind flatterten. Isabelle entschloß sich, nicht noch einmal dorthin zu gehen. Die Furcht, daß die Wiederbegegnung mit den Erinnerungen ihr weh tun würde, war größer als die Neugierde. Ohne Umweg lief sie zurück in die um diese Zeit leere Schankstube von Fritz Schmidt, der hinter dem Tresen stand und ein Faß anstach, trank ein Glas Limonade, wechselte ein paar Worte mit ihm und ging dann auf ihr Zimmer, um sich umzuziehen.
Die Party fand am Abend im Keller der Dorfschule statt. Schon draußen auf dem Platz vor der Schule hörte man den Lärm. Es waren fast fünfzig junge Leute dort, die meisten kannte Isabelle nicht. Jon hatte kistenweise Bier und Cola und Orangensaft angeschleppt, dazu gab es
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