Der Seewolf
Befehlshabers.
»Wieso haben Sie keine bedeutenden Taten vollbracht?«, platzte ich heraus. »Mit der Kraft, über die Sie verfügen, müssten Sie sonst was erreichen können. Gewissenlos, wie Sie sind, müssten Sie die Welt beherrschen. Aber Sie jagen harmlose Seetiere, um die Eitelkeit der Frauen und ihre Putzsucht zu befriedigen. Warum haben Sie Ihre wunderbare Stärke nicht genutzt? Nichts hätte Sie daran hindern können. Was war los?«
»Hump, kennen Sie das Gleichnis vom Sämann? Einige der Samenkörner fielen auf steinigen Boden und keimten zu früh, weil sie nicht genug Erde hatten. Sie konnten keine Wurzeln bilden und verdorrten, als die Sonne herauskam. Andere Körner fielen zwischen Dornensträucher und wurden erstickt.«
»Und?«, fragte ich.
»Ich war ein solches Samenkorn.« Er senkte seinen Kopf und arbeitete weiter. »Wenn Sie eine Karte von Norwegen studieren, Hump, so werden Sie an der Westküste den Romsdalsfjord finden. Irgendwo dort kam ich zur Welt. Als Däne, nicht als Norweger. Meine Eltern waren arme, ungebildete Leute, Küstenbauern, deren Nachkommen seit Menschengedenken zur See fuhren. So einfach ist die Geschichte.«
»Trotzdem erscheint sie mir rätselhaft«, wandte ich ein.
»Was wollen Sie denn noch hören? Von meinem kümmerlichen Leben als Kind? Vom kargen Dasein der Fischer? Ich fuhr aufs Meer hinaus, als ich noch kaum laufen konnte. Mit zehn Jahren wurde ich Kajütenjunge, konnte weder lesen noch schreiben. Schlechtes Essen, Prügel und Hiebe, Angst, Hass und Schmerz - ich erinnere mich ungern daran. Als ich ein Mann geworden war, hätte ich gern einige meiner Peiniger wieder getroffen, aber nur einer war mir vergönnt. Als ich ihn wiedersah, war er ein Schiffer, als wir uns trennten, ein Krüppel für alle Zeit.«
»Aber Sie lesen Werke der Literatur! Wo haben Sie Lesen und Schreiben gelernt?«
»In der englischen Handelsmarine. Kajütenjunge mit zwölf, Schiffsjunge mit vierzehn, Leichtmatrose mit sechzehn, Vollmatrose und Koch mit siebzehn. Ehrgeiz und Einsamkeit, ohne Hilfe und ohne Verständnis. Ich musste alles allein schaffen: Navigation, Mathematik, Naturwissenschaften, Literatur und was sonst noch. Wozu das alles? Herr und Besitzer eines Schiffes auf dem Höhepunkt meines Lebens. Das ist doch kläglich, oder?«
»Aber die Geschichte erzählt von Sklaven, die eines Tages Purpur trugen!«
»Ja, aber ihnen bot sich eine günstige Gelegenheit. Mir nicht. Ach, Hump, außer meinem Bruder weiß niemand so viel über mich wie Sie!«
»Was ist er? Wo ist er?«
»Kapitän des Dampfschiffes Macedonia, Robbenfänger«, lautete die Antwort. »Wahrscheinlich werden wir ihn an der japanischen Küste treffen. Man nennt ihn Tod Larsen.«
»Tod Larsen?«, rief ich. »Ist er wie Sie?«
»Kaum. Er ist ein kopfloses Stück Vieh. Er hat all meine ...«
»Bestialität«, schlug ich vor.
»Ja, danke. Aber er kann kaum lesen oder schreiben.«
»Und er hat sich wahrscheinlich niemals Gedanken über das Leben gemacht«, vermutete ich.
»Nein«, antwortete Wolf Larsen unendlich traurig. »Aber dabei ist er glücklich. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, zu leben als über das Leben nachzudenken. Mein Fehler war, dass ich irgendwann ein Buch aufgeschlagen habe.«
Die Ghost hatte den südlichsten Punkt des Bogens erreicht, den sie auf ihrem Weg durch den Stillen Ozean beschrieb. Jetzt nahm sie Kurs nach Norden. Demnächst, so sagte man, würden wir vor einer einsamen Insel anlegen, um unsere Wasserfässer zu füllen.
Dann war es so weit: Die Jagd entlang der japanischen Küste begann.
Die Jäger hatten ihre Flinten in Ordnung gebracht und schossen sich ein. Die Ruderer und Steuermänner hatten die Boote startklar gemacht.
Leachs Arm war gut verheilt, doch die Narbe würde bleiben. Thomas Mugridge wagte es kaum noch, nach Eintritt der Dunkelheit das Deck zu betreten. Er lebte ständig in Todesangst.
Louis erzählte mir Geschichten über Tod Larsen, den Bruder des Kapitäns. Wahrscheinlich würden wir ihn an der japanischen Küste treffen.
»Das gibt eine Katastrophe!«, prophezeite Louis. »Die beiden hassen sich bis aufs Blut.«
Tod Larsen befehligte den einzigen Robbendampfer der ganzen Flotte, die Macedonia. Sie besaß vierzehn Boote, während die anderen Schoner nur jeweils sechs hatten. Angeblich verfügte sie auch über Kanonen und wüste Gerüchte gingen um. Dabei war die Rede von Opium- und Waffenschmuggel, Sklavenhandel und Seeräuberei.
Doch ich befand mich ja
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