Der Seewolf
sämtlichen Anweisungen wie ein kleines Kind. Doch nichts, was in meinen Kräften stand, verschaffte ihm Erleichterung. Immerhin ließ er auf meinen Rat hin das Trinken und Rauchen bleiben. Mich wunderte nur, dass ein bösartiges Tier wie er Kopfschmerzen haben konnte.
»Es ist die Strafe Gottes«, meinte Louis, »eine Heimsuchung für seine Verbrechen.«
Ich fürchte, dass ich bis zu meiner erzwungenen Reise auf der Ghost Frauen nicht angemessen gewürdigt habe. Niemals zuvor war ich ohne jeden Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht gewesen. Meine Mutter und meine Schwestern waren immer um mich herumgeflattert, während ich versucht hatte ihnen zu entkommen.
Manchmal trieben sie mich fast in den Wahnsinn mit ihrem ewigen Getue um meine Gesundheit. Das Schlimmste waren ihre Besuche in meinem Zimmer, wo angeblich ein heilloses Durcheinander herrschte. Nachdem die Frauen jedoch aufgeräumt hatten, wie sie es nannten, fand ich meistens überhaupt nichts mehr wieder. Schrecklich!
Doch wie glücklich hätte ich mich jetzt gefühlt, wenn auch nur ein weibliches Wesen in meiner Nähe erschienen wäre! Falls ich jemals nach Hause zurückkehren sollte, so nahm ich mir vor, würde ich mich nie wieder über Frauen beschweren. Sie könnten mich von mir aus von morgens bis abends bevormunden und verhätscheln und meine gesamte Bude auf den Kopf stellen. Zufrieden würde ich ihnen zuschauen und Gott danken, dass er mir eine Mutter und mehrere Schwestern beschert hat.
Ich hielt es für ausgesprochen unnatürlich und ungesund, dass Männer ohne jeden weiblichen Einfluss, ganz allein auf sich gestellt, durch die Welt schipperten. Auf diese Weise verwilderten und verrohten sie. Die Seeleute um mich herum hätten Ehefrauen haben sollen, Schwestern und Töchter. Dann hätten sie Zärtlichkeit und Mitgefühl gelernt. Tatsächlich war kein Einziger von ihnen verheiratet.
Eines Abends unterhielt ich mich mit Johansen. Mit achtzehn hatte er Schweden verlassen, jetzt war er achtunddreißig. Während all der Jahre war er kein einziges Mal zu Hause gewesen. Von einem Landsmann, den er irgendwo traf, hatte er erfahren, dass seine Mutter noch lebte.
»Sie muss jetzt ziemlich alt sein«, sagte er und sah Harrison scharf an, weil er einen Strich vom Kurs abgewichen war.
»Wann haben Sie ihr denn zuletzt geschrieben?«, wollte ich wissen. »Vor zehn Jahren. Von einem kleinen Hafen auf Madagaskar. Wissen Sie, eigentlich wollte ich jedes Jahr zurück nach Hause. Wozu sollte ich also schreiben? Dann kam jedes Mal etwas dazwischen. Aber jetzt bin ich Steuermann, und wenn ich meine Schulden in Frisco bezahlt habe, heure ich auf einem Windjammer an, der nach Liverpool fährt. Von dem Geld kann ich dann die Passage nach Schweden bezahlen und meine Mutter braucht nicht mehr zu arbeiten.«
»Arbeitet sie etwa immer noch?«, fragte ich erstaunt. »Wie alt ist sie?«
»Um die siebzig. In meinem Land arbeiten alle von ihrer Geburt an bis zu ihrem Tod. Deshalb leben wir so lange. Ich werde hundert Jahre alt werden.«
Ich kann dieses Gespräch mit Johansen nicht vergessen, denn es waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte. Vielleicht waren es sogar überhaupt seine letzten Worte.
Als ich hinunter zur Kajüte ging, beschloss ich an Deck zu schlafen, denn es war eine schöne und ruhige Nacht. Ich holte mir ein Kissen und eine Decke und stieg wieder hinauf. Als ich an Harrison vorbeikam, bemerkte ich, dass er jetzt volle drei Strich vom Kurs abgewichen war. Ich nahm an, dass er eingeschlafen war, und wollte ihm Ärger ersparen. Deshalb sprach ich ihn an. Doch er schlief nicht. Seine Augen waren weit aufgerissen.
»Was ist los?«, fragte ich. »Bist du krank?«
Er schüttelte den Kopf und stöhnte.
»Du würdest gut daran tun, den Kurs zu halten!« Ich wollte gerade weitergehen, da bemerkte ich eine Bewegung an der Reling. Eine sehnige Hand, von der das Wasser tropfte, umfasste sie. Dann tauchte eine zweite Hand aus der Dunkelheit auf. Ich beobachtete es fasziniert. Welcher Gast aus der Tiefe des Meeres versuchte da an Bord zu gelangen?
Wer immer es war, er kletterte offensichtlich mit Hilfe der Logleine herauf. Dann sah ich den Kopf: nasses, strähniges Haar und - die Augen und das Gesicht von Wolf Larsen! Seine rechte Wange war von Blut verschmiert, das aus einer Kopfwunde floss. Er schwang sich über die Reling und spähte zu dem Mann am Steuer. Zu seinen Füßen bildete sich eine Pfütze. Als Wolf Larsen auf mich zukam, zuckte ich instinktiv
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