Der Seewolf
Gespräch. Ihre Gefährten ließen keinen Zweifel daran, dass die beiden das Schlimmste erwartete. Im Grunde waren sie schon so gut wie tot.
Leach ertrug ihre Prophezeiungen und Befürchtungen eine Weile, dann brach es aus ihm heraus: »Ihr macht mich wahnsinnig! Wenn ihr weniger geschwatzt und mehr gehandelt hättet, wäre es jetzt aus mit ihm. Warum konnte nicht einer - ein einziger - ein Messer ranschaffen, als ich danach verlangt habe? Hört auf zu jammern! Als ob er euch umbringen würde, wenn er euch erwischt! Ihr wisst, dass er sich das nicht leisten kann. Wer sollte dann rudern, steuern oder die Segel setzen? Johnson und ich, wir müssen die Sache ausbaden. Kriecht jetzt in eure Kojen und haltet das Maul, ich will ein bisschen schlafen!«
Die ganze Zeit über hatte ich überlegt, wie ich aus meiner misslichen Lage herauskommen könnte. Was würden diese Männer mit mir machen, wenn sie mich entdeckten? In dem Moment brüllte Latimer durch die Luke: »Hump! Der Alte verlangt nach dir!«
»Hier ist er nicht«, rief Parsons zurück.
»Doch!« Ich schlüpfte aus der Koje und bemühte mich nach Kräften, meiner Stimme einen festen Klang zu geben.
Die Matrosen starrten mich fassungslos an.
»Ich komme«, rief ich zu Latimer hinauf.
»Das wirst du nicht!« Kelly sprang zwischen mich und die Leiter. »Verdammter kleiner Schnüffler, ich werde dir das Maul stopfen!«
»Lass ihn gehen«, befahl Leach. »Nicht ums Verrecken!«
»Ich sagte, du sollst ihn gehen lassen«, wiederholte Leach.
Der Ire wurde unsicher. Ich drückte mich an ihm vorbei und erreichte die Leiter. Dort drehte ich mich noch einmal um und blickte in die Gesichter, die durch das Halbdunkel hinter mir hersahen. Eine Welle von Mitgefühl überschwemmte mich.
»Ich habe nichts gehört oder gesehen. Glaubt mir«, sagte ich ruhig.
»Er ist in Ordnung«, hörte ich Leach sagen, während ich die Leiter hinaufstieg. »Er kann den Alten genauso wenig leiden wie ihr oder ich.«
Wolf Larsen erwartete mich in der Kajüte. Er war nackt und blutig und begrüßte mich mit einem seltsamen Lächeln.
»Machen Sie sich an die Arbeit, Doktor! Es scheint, dass Sie auf dieser Reise sehr viele Fähigkeiten erlangen werden.«
Inzwischen kannte ich mich mit der Grundausstattung des Arzneikastens aus, der zur Ausrüstung der Ghost gehörte. Während ich Wasser heiß machte und die Dinge bereitlegte, die ich zum Verbinden der Wunden brauchte, lief Wolf Larsen hin und her, lachte, plauderte und musterte seine Verletzungen.
Ich hatte den Kapitän noch nie zuvor nackt gesehen. Zwar waren auch einige von den Männern in der Back ansehnlich und verfügten über prachtvolle Muskeln, doch wies jeder von ihnen irgendwelche Schwächen auf. Im Gegensatz dazu war Wolf Larsens Körper perfekt, beinahe göttlich. Während er sich durch den Raum bewegte, hob er die Arme, sodass sein Bizeps sich unter der glatten Haut spannte.
Wenn ich den wilden Kampf bedachte, der sich in der Back abgespielt hatte, so waren seine Verletzungen nicht allzu schwerwiegend. Außer wenigen, wirklich hässlichen Wunden gab es lediglich eine Vielzahl von Beulen und Schrammen. Der Hieb auf den Kopf, bevor er über Bord gestürzt war, hatte seine Schädeldecke mehrere Zoll breit bloßgelegt. Nachdem ich die Ränder rasiert hatte, reinigte und nähte ich diese Wunde. Danach war noch ein böser Riss in der Wade zu versorgen, der aussah, als stamme er von einem wütenden Hund.
»Sie sind ein brauchbarer Mann, Hump«, sagte Wolf Larsen, als ich meine Arbeit beendet hatte. »Wir brauchen einen neuen Steuermann. Das werden Sie jetzt übernehmen. Sie erhalten fünfundsiebzig Dollar im Monat und werden ab sofort mit Mr van Weyden angeredet.«
»Aber ich habe keine Ahnung von Navigation. Das wissen Sie doch!«
»Völlig unwichtig.«
»Ich mache mir nichts aus einer Beförderung«, versuchte ich es weiter. »Das Leben ist so schon anstrengend genug ...«
Er lächelte.
»Aber ich will kein Steuermann auf diesem Höllenschiff sein!«, rief ich trotzig.
Da wurden seine Gesichtszüge hart und seine Augen unbarmherzig.
»Gute Nacht, Mr van Weyden«, sagte er und verschwand in seiner Kabine.
»Gute Nacht, Mr Larsen«, murmelte ich.
Meine neue Stellung als Steuermann brachte mir kaum einen anderen Vorteil, als dass ich nun kein Geschirr mehr abwaschen musste. Ich hatte nicht die geringste Ahnung von meinen neuen Pflichten, und wenn die Matrosen nicht auf meiner Seite gestanden hätten, wäre es schlimm
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