Der Seewolf
lossegelten, um uns ins Lee des letzten Bootes zu setzen, war der Ozean um uns herum von schlafenden Robben bedeckt. Sie waren größer als die bisherigen Tiere und lagen zu zweit, zu dritt oder in Gruppen beieinander. Sie schliefen, der Länge nach auf der Wasseroberfläche ausgestreckt, wie junge Hunde.
Der sich nähernde Dampfer wurde allmählich größer. Es handelte sich tatsächlich um die Macedonia. Wolf Larsen schleuderte dem Schiff wilde Blicke entgegen und Maud Brewsters Neugier erwachte.
»Was für Scherereien erwarten Sie, Kapitän Larsen?«
»Was glauben Sie denn?«, fragte er belustigt. »Dass sie an Bord kommen und uns die Kehlen durchschneiden?«
»Etwas in der Art«, bestätigte sie. »Wissen Sie, jagende Seeleute sind mir so fremd, dass ich mit allen Möglichkeiten rechne.«
Er nickte. »Ganz recht, ganz recht! Sie sollten auf das Schlimmste gefasst sein.«
»Was könnte es denn Schlimmeres geben, als dass einem die Kehle durchgeschnitten wird?«
»Wenn uns das Geld entwendet wird«, antwortete er. »Heutzutage hängt die Lebensfähigkeit von dem Geld ab, das man besitzt.« »Wer meinen Geldbeutel stiehlt, stiehlt Plunder«, zitierte sie.
»Wer meinen Geldbeutel stiehlt, stiehlt mein Recht auf Leben«, lautete seine Entgegnung. »Denn er stiehlt mein Brot, mein Fleisch und mein Bett und damit zerstört er mein Leben. So viele Suppenküchen gibt es nicht, wo man etwas bekäme. Wer nichts in seiner Geldbörse hat, geht elend zugrunde.«
»Aber ich sehe keinerlei Hinweis, dass der Dampfer dort drüben hinter Ihrer Geldbörse her wäre«, meinte sie.
»Warten Sie es ab, Sie werden schon sehen«, sagte er grimmig.
Wir brauchten nicht lange zu warten. Einige Meilen hinter unserer Bootslinie setzte die Macedonia ihre eigenen Boote aus. Sie besaß vierzehn, wir nur noch fünf. Damit war die Jagd für uns beendet, denn die fremde Jägerschar trieb die Herde nun vor sich her, während wir das Nachsehen hatten. Dabei waren die Bedingungen zum Jagen so ideal gewesen wie selten.
Unsere Boote grasten rasch die paar Meilen zwischen sich und den Fremden ab, dann kehrten sie zurück. Lauter zornige Männer schwangen sich schimpfend über die Reling. Jeder fühlte sich persönlich beraubt. Sie verfluchten Tod Larsen, dass er auf der Stelle hätte umfallen müssen, wenn Flüche eine Wirkung hätten.
»Hören Sie sich das an«, sagte Wolf Larsen. »Es ist nicht schwierig, herauszufinden, was für diese Männer das Wichtigste ist.
Glaube? Liebe? Hohe Ideale? Das Gute oder das Schöne? Wahrheit?«
»Ihr angeborener Sinn für Gerechtigkeit ist verletzt worden«, meinte Maud Brewster. Ihre Stimme war glockenklar und klang süß in meinen Ohren. Kaum wagte ich es, sie anzusehen, aus Furcht, meine Gefühle preiszugeben. Eine Jungenmütze saß auf ihrem Kopf, unter der sich ihr hellbraunes Haar wie eine lichte Wolke hervordrängte. Die Sonne verlieh ihm einen goldenen Schimmer und ließ ihre Augen leuchten. Sie verzauberte mich.
»Sie sind genauso sentimental wie Mr van Weyden«, höhnte Wolf Larsen. »Diese Leute fluchen, weil ihnen ein Strich durch die Rechnung gemacht worden ist. Es verlangt sie nach schmackhaftem Essen und einem weichen Bett, wenn sie an Land kommen. Nach gutem Lohn, hübschen Weibern und Schnaps. Danach steht ihnen der Sinn!«
»Sie scheinen nicht betroffen zu sein«, meinte sie lächelnd.
»Und ob ich betroffen bin! Wenn man die aktuellen Fellpreise auf dem Londoner Markt zugrunde legt und meine Schätzung in etwa stimmt, was unsere Beute betrifft, die man uns weggeschnappt hat, so sind uns ungefähr fünfzehnhundert Dollar entgangen.«
»Und das sagen Sie so ruhig ...«
»Aber ich bin nicht ruhig! Ich könnte den Kerl umbringen, der mich beraubt hat. Ja, ja, ich weiß, er ist doch mein Bruder - sentimentales Gefasel, das alles!«
Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. Seine Stimme klang nicht mehr so hart und vollkommen aufrichtig: »Ihr müsst glücklich sein mit all eurer Sentimentalität, unglaublich glücklich! An allem findet ihr etwas Gutes und deshalb fühlt ihr euch selber gut. Aber mal ehrlich, ihr beide, findet ihr mich gut?«
»Sie sehen gut aus - könnte man sagen«, antwortete ich.
»Sie haben alle Voraussetzungen um gut zu sein«, stellte Maud Brewster fest.
»Da haben wir's wieder!«, rief er ärgerlich. »Ihre Worte sagen mir nichts. Sie sind unklar und vage, keine Aussage, die man fassen kann.« Als er fortfuhr, wurde seine Stimme wieder sanfter und
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