Der Seewolf
Strich West zu Nord vorgerückt. Noch immer wurden sie von fünf Booten der Macedonia, die ebenfalls hart am Wind lagen, vom offenen Meer abgeschnitten. Außer der Segel wurden in unseren Booten sämtliche Riemen benutzt, alle Männer ruderten. Auf diese Weise überholten sie bald ihre Gegner.
Der Rauch der Macedonia war jetzt nur noch als verschwommener Fleck am nordöstlichen Horizont auszumachen. Vom Dampfer selbst war nichts mehr zu sehen.
Wolf Larsen brachte die Ghost in volle Fahrt. Wir überholten unsere Boote und verfolgten das erste des Gegners.
»Runter mit dem Außenklüver, Mr van Weyden«, befahl Wolf Larsen. »Halten Sie sich bereit, den Klüver überzuholen!«
Kaum hatte ich diese Befehle ausgeführt, da glitten wir etwa hundert Fuß an dem Boot vorüber. Die drei Männer darin beäugten uns misstrauisch. Sie hatten die Jagd an sich gerissen und sie kannten Wolf Larsen, zumindest seinen Ruf. Ich bemerkte, dass einer der Insassen, ein riesiger Skandinavier, sein Gewehr schussbereit auf den Knien hielt.
Wolf Larsen winkte ihnen zu. »Kommt auf ein Schwätzchen zu uns herüber!«
Die Ghost drehte sich in den Wind und ich lief nach achtern, um dort zu helfen.
»Bleiben Sie bitte an Deck, Miss Brewster«, sagte Wolf Larsen, bevor er seinen Gästen entgegenging. »Und Sie auch, Mr van Weyden.«
Das Boot hatte sein Segel eingeholt und kam längsseits. Der Jäger, der mit seinem goldenen Bart wie ein König der See wirkte, stieg über unsere Reling. Trotz seiner Riesenhaftigkeit blieb er wachsam. Zweifel und Misstrauen standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Doch als er bemerkte, dass er es lediglich mit Wolf Larsen und mir zu tun hatte, während seine beiden Gefährten sich eben zu uns gesellten, schien er etwas erleichtert. Er hatte auch keinen Grund, ängstlich zu sein, überragte er Wolf Larsen doch wie ein Goliath! Ich schätzte seine Größe auf mindestens sechs Fuß und neun Zoll und er wog, wie ich später erfuhr, zweihundertvierzig Pfund. Kein Gramm Fett, alles Knochen und Muskeln! Wolf Larsen lud seinen Gast in die Kajüte ein. Er folgte nach kurzem Zögern, während seine Männer, wie es in Seemannskreisen üblich war, einen Besuch in der Back abstatteten.
Plötzlich ertönte aus der Kajüte entsetzliches Gebrüll und dann all die Geräusche eines heftigen, wüsten Kampfes.
»Sie sehen, wie heilig uns hier die Gastfreundschaft ist«, sagte ich bitter zu Miss Brewster.
Sie nickte. Ihrem Gesicht merkte ich an, dass sie genauso unter der Gewalt und Brutalität litt, wie ich es während der ersten Wochen auf der Ghost getan hatte.
»Wollen Sie nicht lieber nach vorn gehen, bis es vorbei ist?«, schlug ich vor.
Sie schüttelte den Kopf und sah mich mit Mitleid erregendem Blick an. Sie hatte keine Angst, aber unendlichen Widerwillen gegen die Bestialität des Menschen, der unser Schiff kommandierte.
»Welche Rolle ich hier auch spielen muss«, sagte ich erregt, »begreifen Sie bitte, dass ich dazu gezwungen bin, wenn wir beide irgendwann dieser schrecklichen Situation entkommen wollen! - Es macht mir keine Freude ...«
»Ich verstehe«, meinte sie schwach und ich merkte, dass sie es tatsächlich verstand.
Der Tumult unten legte sich. Wolf Larsen erschien an Deck - allein. Außer, dass sein Gesicht unter der Sonnenbräune leicht gerötet war, wies er keine Kampfspuren auf.
»Schicken Sie die beiden Männer nach achtern, Mr van Weyden.« Wenige Minuten später standen sie vor ihm.
»Holt euer Boot ein«, sagte Wolf Larsen zu ihnen. »Euer Jäger möchte ein bisschen an Bord bleiben und will nicht, dass es da unten beschädigt wird.«
Sie zögerten.
»Holt das Boot ein, habe ich gesagt!« Seine Stimme war scharf. »Wer weiß? Vielleicht müsst ihr eine Zeit lang mit mir segeln. Da sollten wir uns besser vertragen. Nun mal los! Tod Larsen springt doch noch ganz anders mit euch um.«
Eilig führten die beiden Männer den Befehl aus. Ich musste den Klüver vorheißen und Wolf Larsen steuerte die Ghost auf das nächste Boot der Macedonia zu.
Das dritte gegnerische Boot wurde inzwischen von zweien unserer Boote angegriffen, das vierte von den drei restlichen. Die Männer im fünften Boot der Macedonia hatten gewendet, um ihren Kameraden beizustehen. In einiger Entfernung hatte ein Kampf begonnen, unaufhörlich krachten Schüsse. Kugeln hüpften von Welle zu Welle, denn im kräftigen Wind bei aufgewühlter See war zielsicheres Schießen kaum möglich.
Das Boot, das wir verfolgten,
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