Der Seewolf
beinahe vertraulich: »Wissen Sie, manchmal wünsche ich mir, genauso blind für die Tatsachen des Lebens zu sein, nur Träume und Wunschvorstellungen zu kennen. Das wäre wahrscheinlich erfreulicher.« Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Ich beneide Sie.« Er schwieg und sah gedankenverloren über das Meer. Schwermut hatte ihn gepackt und in wenigen Stunden, das wusste ich aus Erfahrung, würde der Teufel wieder aus ihm hervorbrechen.
»Sie waren an Deck, Mr van Weyden«, sagte Wolf Larsen am nächsten Morgen beim Frühstück. »Wie sieht es aus?«
»Klarer Himmel.« Ich freute mich über den Sonnenschein, der die Treppe herunterfiel. »Eine frische Brise von West mit der Aussicht auf steifen Wind, wenn man Louis' Vorhersage vertrauen kann.«
Er nickte zufrieden. »Irgendwelche Anzeichen von Nebel?«
»Dichte Bänke im Norden und Nordwesten.«
Er nickte wieder, der Ausdruck von Zufriedenheit in seiner Miene wuchs.
»Was ist mit der Macedonia?«
»Nicht zu sehen.«
Jetzt wirkte er enttäuscht. Ich hatte keinerlei Ahnung, warum, doch ich sollte es bald erfahren.
»Rauch ahoi!«, tönte es von Deck und seine Miene hellte sich auf. »Bestens!« Er sprang auf und lief zum Zwischendeck, wo die Jäger ihr erstes Frühstück seit der Verbannung aus der Kajüte einnahmen.
Maud Brewster und ich rührten unser Frühstück kaum an, sondern lauschten, von düsteren Ahnungen geplagt, auf Wolf Larsens Stimme. Doch wir konnten seine Worte nicht verstehen. Er sprach lange und am Ende brüllten die Jäger vor Begeisterung.
Miss Brewster und ich gingen an Deck. Ich ließ sie am Achteraufbau zurück, damit sie nicht in das Geschehen verwickelt werden würde.
Mit viel Elan und guter Laune ließen die Matrosen die Boote hinunter. Offensichtlich freuten auch sie sich auf das geplante Unternehmen. Einer nach dem anderen tauchten die Jäger auf. Sie brachten ihre Schrotflinten und Munitionskisten mit und außerdem - völlig ungewohnt - ihre Gewehre. Letztere wurden zur Robbenjagd nicht verwendet, denn wenn man ein Tier mit einer Kugel erlegen würde, ginge es unter, bevor man es einsammeln könnte. Heute jedoch hatte jeder der Jäger sein Gewehr sowie einen großen Vorrat Patronen dabei. Ihr Grinsen wurde immer breiter, während die Macedonia näher herankam.
Unsere fünf Boote klatschten ins Wasser, liefen fächerförmig in Richtung Norden aus wie am vorigen Nachmittag und es war die Aufgabe der Ghost, ihnen zu folgen. Obwohl ich unsere Männer aufmerksam beobachtete, entdeckte ich nichts Besonderes an ihrem Verhalten. Sie holten die Segel ein, schössen auf die Robben und heißten die Segel wieder, um ihre Fahrt wie gewöhnlich fortzusetzen.
Die Macedonia wiederholte ihre Vorstellung vom Vortag. Mit ihren vierzehn Booten schnitt sie unsere Jäger von der Robbenherde ab und vereitelte so unsere Jagd. Dann dampfte sie weiter Richtung Nordosten.
»Und nun?«, fragte ich Wolf Larsen, der am Rad stand. Ich konnte meine Neugier kaum noch beherrschen.
»Darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern«, knurrte er. »Beten Sie um einen anständigen Wind!«
»Ach was«, meinte er im nächsten Moment, »warum soll ich Sie nicht einweihen? Ich werde meinem so genannten Bruder seine eigene Arznei zu kosten geben. Ich will den Spieß umdrehen, und zwar nicht nur für einen Tag, sondern bis zum Ende der Jagdzeit - wenn wir Glück haben.«
»Und wenn nicht?«, fragte ich.
»Nicht auszudenken!« Er lachte. »Wir müssen einfach Glück haben, sonst sitzen wir in der Tinte.«
Ich stattete meinem Lazarett in der Back einen Besuch ab, wo die beiden Verletzten Nilson und Thomas Mugridge versorgt wurden. Nilson war guter Dinge, denn sein gebrochenes Bein heilte ausgezeichnet. Der Koch aber schaute mir voller Schwermut entgegen und er konnte einem wirklich Leid tun! Trotz allem klammerte er sich an sein elendes Leben.
»Mit einem künstlichen Fuß - und heutzutage gibt es hervorragende Ausführungen - kannst du bis ans Ende aller Tage durch Schiffskombüsen stapfen«, versuchte ich ihn aufzumuntern. Seine Antwort war ernst, fast feierlich: »Davon habe ich keine Ahnung, Mr van Weyden, aber eins weiß ich genau: Ich werde nicht eher Ruhe geben, bis dieser Höllenhund mausetot ist. Er hat kein Recht, zu leben!«
Als ich an Deck zurückkehrte, steuerte Wolf Larsen mit einer Hand. In der anderen Hand hielt er ein Fernglas. Er beobachtete die Bewegungen der Boote und den Kurs der Macedonia. Unsere Boote lagen jetzt hoch am Wind und waren etliche
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