Der Seewolf
Männer an allen Schoten. Aber keinen Lärm, hören Sie, absolut keine Geräusche!«
Seine Befehle wurden befolgt und es gelang tatsächlich beinahe ohne einen Laut. Kaum hatten wir es geschafft, da löste der Nebel sich plötzlich auf und wir segelten im Sonnenschein über das endlose Blau.
Das Meer war verlassen und leer! Keine Spur von der Macedonia. Die Ghost lief am Rand der Nebelbank entlang. Wolf Larsens Plan war offensichtlich. Er war in Luv des Dampfers in den Nebel getaucht, blindwütig verfolgt von der Macedonia. Jetzt verließ er unser Versteck, um auf der Leeseite erneut darin unterzutauchen. Wenn sein Plan gelang, hätte sein Bruder keine Aussicht mehr, uns zu stellen. Dann wäre die Ghost so unauffindbar wie eine Stecknadel im Heuhaufen.
Doch während wir in den Nebel tauchten, bemerkte ich in Luv den Schatten eines Schiffsrumpfes. Wolf Larsen hatte ihn auch bemerkt, denn er nickte. Offensichtlich hatte die Macedonia seinen Trick erraten und uns nur um Haaresbreite verfehlt. Aber es bestand kein Zweifel: Wir waren ungesehen entkommen.
»Er kann so nicht weitermachen«, meinte Wolf Larsen. »Er muss sich um seine Boote kümmern. Schicken Sie einen Mann ans Rad, Mr van Weyden, und halten Sie vorläufig diesen Kurs. Teilen Sie die Wachen ein, denn heute Nacht werden wir kaum Ruhe finden. Wir sollten jetzt unsere Neuzugänge begrüßen. Spendieren Sie reichlich Whiskey, dann möchte ich wetten, dass die Männer morgen genauso gern für Wolf Larsen jagen, wie sie es für Tod Larsen getan haben.«
»Glauben Sie nicht, dass sie fliehen wie Wainwright?«, warf ich ein. Er lachte schlau. »Nicht, solange unsere alten Jäger etwas zu sagen haben! Sie bekommen zusammen einen Dollar für jedes Fell, das ein neuer Jäger erbeutet. Warum, glauben Sie, haben sie heute Morgen so gejubelt? Aber jetzt sollten Sie mal nach Ihrem Lazarett sehen. Sie werden eine Menge Patienten vorfinden.«
Wolf Larsen nahm die Verteilung des Whiskeys selbst in die Hand. Während ich in der Back den neuen Schub Verwundeter verarztete, wurden die Flaschen herangeschafft.
In meinem Leben hatte ich bereits viele Männer Whiskey trinken sehen, doch niemals so, wie die Kerle auf der Ghost ihn tranken: aus Konservendosen, aus Krügen und aus Flaschen. Sie tranken so gierig, dass ihnen das Zeug aus den Mundwinkeln rann, und immer neue Flaschen wurden geöffnet.
Alle tranken, sogar die Verwundeten und mein Assistent Oofty- Oofty. Nur Louis hielt sich zurück. Er befeuchtete sich lediglich die Lippen mit der braunen Flüssigkeit. Trotzdem stimmte er in das allgemeine Gegröle mit ein.
Es wurde ein wüstes Gelage. Lauthals erörterten die Männer die Ereignisse des Tages, stritten über Einzelheiten, verbrüderten sich mit denen, gegen die sie zuvor gekämpft hatten. Sie schluchzten über vergangenes Elend und zukünftige Leiden, erzählten schreckliche Dinge über Wolf Larsen und verfluchten seine Brutalität.
Der kleine, von Kojen eingerahmte Raum bot eine merkwürdige Kulisse. Fußboden und Wände schwankten im trüben Licht, in dem sich die Schatten gespenstisch verlängerten oder verkürzten. Es stank nach Rauch, Schweiß und Jodoform. Den Neulingen wurden immer wildere, immer haarsträubendere Geschichten über unser Höllenschiff und seinen Kapitän aufgetischt.
Wolf Larsen, immer wieder Wolf Larsen, der seine Mitmenschen peinigte und bis aufs Blut quälte! Doch seine Opfer wagten nur heimlich oder im Suff zu rebellieren. Und was war mit mir? Verhielt ich mich etwa anders? Oder Maud Brewster? Nein! Ich knirschte mit den Zähnen und verspürte eine wilde Entschlossenheit. Der Mann, den ich gerade verband, zuckte zusammen und Oofty-Oofty sah mich neugierig an.
Meine Liebe hatte mir ungeahnte Kräfte verliehen. Ich fürchtete mich vor nichts mehr. Endlich würde ich mich wehren und Wolf Larsen die Stirn bieten. Alles würde gut werden! Ich drehte der saufenden Horde den Rücken zu und stieg hinauf an Deck.
Dort waberte Nebel geisterhaft durch die Nacht, die Luft war still und rein. Ich ging zur Kajüte, wo das Abendessen serviert wurde. Wolf Larsen und Maud warteten schon auf mich.
Während seine komplette Mannschaft sich so schnell betrank, wie es nur möglich war, blieb der Kapitän nüchtern. Kein Tropfen Schnaps kam über seine Lippen. Das schien ihm unter den gegebenen Umständen zu riskant. Louis und ich waren die Einzigen, auf die er sich verlassen konnte, und Louis stand am Steuer. Noch immer segelten wir durch dichten
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