Der Seewolf
Nebel, ohne Ausguck und ohne Lichter. Es wunderte mich, dass Wolf Larsen den Whiskey ausgegeben hatte. Doch offensichtlich wusste er, wie er Leute behandeln musste, damit nach Blutvergießen Kameradschaft entstand.
Sein Sieg über Tod Larsen schien eine bemerkenswerte Wirkung auf ihn zu haben. Nachdem er sich am Vorabend in tiefe Schwermut geredet hatte, war ich ständig auf einen Ausbruch gefasst gewesen, aber nichts war passiert und er befand sich in glänzender Verfassung. Vielleicht hatte seine reiche Beute dies bewirkt. Doch ich irrte mich gewaltig, denn in Wahrheit brütete er einen Anfall aus, der noch weit verheerender war als alle vorangegangenen!
Wie gesagt, als ich zum Essen erschien, war er bester Laune. Schon wochenlang hatten ihn keine Kopfschmerzen mehr geplagt. Seine Augen blickten blau und klar wie der Himmel, sein Gesicht wirkte sonnengebräunt und gesund. Er genoss das Leben in vollen Zügen.
Wolf Larsen und Maud befanden sich in einer lebhaften Diskussion über das Thema »Versuchung«. Während er alle Beweggründe auf Wünsche und Verlangen zurückführte, brachte sie die menschliche Seele und die Frage von Gut oder Böse ins Spiel.
»Ihr irrt euch beide«, sagte ich. »Die menschliche Seele besteht aus der Summe der Wünsche und des Verlangens. Folglich handelt es sich um zwei Seiten derselben Sache.«
Stolz registrierte ich, dass meine Worte die Frage wohl entschieden hatten, zumindest aber abgeschlossen. Doch Wolf Larsen war nicht zu bremsen, befand sich in Redelaune. Unverzüglich packte er das Thema »Liebe« an. Wie üblich betrachtete er es rein von der materialistischen Seite, während Maud einen idealistischen Standpunkt vertrat. Ich hielt mich zurück. Gedankenverloren betrachtete ich die junge Frau, deren Gesicht rosig angehaucht war, während sie mit Wolf Larsen debattierte. Eine braune Locke kringelte sich über ihre Wange und ich konnte die Augen kaum von ihr abwenden.
Plötzlich streckte Louis seinen Kopf zur Tür herein und flüsterte: »Leise! Der Nebel ist aufgestiegen und vor uns blinkt die Backbordlaterne eines Dampfers.«
Wolf Larsen spurtete an Deck, schloss die Luke über dem betrunkenen Gejohle und rannte zum Bug, um auch die Luke zur Back dicht zu machen. In der stockfinsteren Nacht sah ich direkt vor uns ein helles rotes und ein weißes Licht. Eine Dampfmaschine stampfte. Zweifellos handelte es sich um die Macedonia. Wir standen schweigend beisammen und beobachteten, wie die Lichter vor unserem Bug vorbeiglitten.
»Gut, dass er keinen Scheinwerfer hat«, meinte Wolf Larsen. »Und wenn ich laut rufe?«, flüsterte ich.
»Dann ist es aus mit uns! Aber haben Sie auch bedacht, was sofort passieren würde?«
Bevor ich einen Gedanken fassen konnte, hatte er mich mit seinem Gorillagriff um die Kehle gepackt und machte mir mit einem leichten Muskelspiel klar, wie schnell er mir das Genick brechen könnte. Im nächsten Augenblick ließ er mich los und wir starrten hinter den Lichtern her.
»Und wenn ich nun schreie?«, fragte Maud.
»Ich mag Sie zu sehr, als dass ich Sie verletzen würde«, sagte er so sanft und zärtlich, dass es mir einen Stich versetzte. »Aber tun Sie es trotzdem nicht, denn sonst würde ich sofort Mr van Weyden das Genick brechen.«
»Dann hat sie meine Erlaubnis, zu schreien«, erklärte ich trotzig. Wir schwiegen, doch wir waren schon so vertraut miteinander, dass die Stille nicht mehr unangenehm war. Als die Lichter verschwunden waren, kehrten wir zu unserem unterbrochenen Abendessen zurück.
Maud und Wolf Larsen begannen ein Gespräch über Literatur. Während sie einige Verse aus einer Dichtung zitierte, beobachtete ich sein Gesicht. Seine Blicke hingen an ihren Lippen und in seinen Augen funkelten wieder jene goldenen Lichter. Der Tisch wurde nicht abgeräumt. Anscheinend hatte sich der Bursche, der Thomas Mugridge vertrat, zu seinen Kumpanen gesellt um zu saufen.
Wenn Wolf Larsen jemals den Höhepunkt seines Lebens erreichte, dann geschah es jetzt. Intelligent und leidenschaftlich unterhielt er sich noch immer mit Maud Brewster. Seine Argumente waren klar und logisch, seine Sprache gewandt, die Pointen griffig. Dann kamen sie auf Miltons Luzifer zu sprechen und Wolf Larsen charakterisierte ihn meisterhaft.
»Luzifer war ein freier Geist«, sagte er. »Er lehnte es ab, Gott zu dienen. Er wollte niemandem dienen. Er stand auf eigenen Beinen. Er war eine Persönlichkeit.«
Wolf Larsen erhob sich und zitierte aus Miltons Dichtung. Die
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