Der Seewolf
abwechselnd an den beiden Taljen abwärts, bis es dicht über der Wasseroberfläche hing. Dann vergewisserte ich mich, dass die notwendige Ausrüstung, Riemen, Klampen und Segel, vorhanden war. Trinkwasser war lebenswichtig, deshalb holte ich die Fässer aus allen anderen Booten. Während Maud mir die Vorräte zureichte und ich sie im Boot verstaute, erschien ein Matrose an Deck. Er blieb eine Weile an der Luvreling stehen, während wir auf der Leeseite zugange waren, dann schlenderte er nach mittschiffs. Dort hielt er wieder inne, beobachtete den Wind und drehte uns dabei den Rücken zu. Mein Herz schlug bis zum Hals, während ich mich ins Boot duckte. Maud kauerte bewegungslos im Schatten der Reling, doch der Kerl drehte sich kein einziges Mal um. Nachdem er ausgiebig seine Arme gestreckt und laut gegähnt hatte, schlurfte er zur Back zurück und verschwand.
Wir brauchten noch ein paar Minuten zum Beladen, dann ließ ich das Boot vollends hinunter. Als ich Maud über die Reling half und ihren Körper eng an meinem fühlte, hätte ich ihr gern meine Liebe gestanden, aber ich schwieg. Dann hielt ich mich mit einer Hand an der Reling fest und stützte sie mit der anderen. Ich spürte einen Anflug von Stolz, denn mir wurde bewusst, dass ich inzwischen über Kräfte verfügte, die ich vor einigen Monaten noch nicht besessen hatte.
Als das Boot sich auf einer Woge hob, berührten Mauds Füße den Boden. Ich ließ ihre Hand los. Dann löste ich die Taljen und sprang hinterher. Ich war noch niemals im Leben gerudert, aber jetzt legte ich die Riemen aus und bekam mit einiger Mühe das Boot von der Ghost frei.
Ich machte mich am Segel zu schaffen. Unzählige Male hatte ich zugesehen, wie die Steuermänner und Jäger ihre Sprietsegel setzten, doch dies war mein erster eigener Versuch. Was ihnen in zwei Minuten gelang, bewältigte ich in zwanzig. Schließlich hatte ich es geschafft. Mit beiden Händen am Ruder brachte ich das Boot an den Wind.
»Dort liegt Japan«, verkündete ich, »direkt vor uns.«
»Humphrey van Weyden«, sagte sie, »Sie sind ein mutiger Mann.« »Nein. Sie sind eine mutige Frau.«
Wir drehten uns um, getrieben von demselben Wunsch, einen letzten Blick auf die Ghost zu werfen. Ihr niedriger Rumpf hob sich auf einer Woge, ihre Segel schimmerten in der Dunkelheit, dann verblassten sie und verschwanden. Wir waren allein auf der finsteren See.
Grau und frostig brach der Tag an. Unser Boot lag hart am frischen Wind und der Kompass zeigte an, dass wir uns auf direktem Kurs nach Japan befanden. Trotz der Handschuhe waren meine Finger kalt und schmerzten von der Betätigung des Ruders. Der Frost biss mir in die Füße und ich sehnte mich nach der Sonne.
Vor mir auf dem Boden lag Maud. Sie zumindest hatte es warm, denn sie war in dicke Decken gewickelt. Die oberste hatte ich etwas über ihr Gesicht gezogen, um es vor dem Nachtfrost zu schützen. So konnte ich nur die Umrisse ihres Körpers erkennen und ihr hellbraunes Haar, das unter der Decke hervorquoll.
Lange betrachtete ich sie so, wie ein Mann seinen wertvollsten Schatz ansieht. Meine Blicke müssen dermaßen intensiv gewesen sein, dass sie sich schließlich regte und mich mit schlaftrunkenen Augen anlächelte.
»Guten Morgen, Mr van Weyden, haben Sie schon Land entdeckt?«
»Nein, aber wir nähern uns ihm mit einer Geschwindigkeit von sechs Meilen pro Stunde.«
Sie schien ein bisschen enttäuscht.
»Das sind einhundertvierundvierzig Meilen in vierundzwanzig Stunden«, ermunterte ich sie.
Ihre Augen leuchteten auf. »Und wie weit ist es?«
»Dort drüben liegt Sibirien.« Ich zeigte nach Westen. »Aber im Südwesten, ungefähr sechshundert Meilen entfernt, liegt Japan. Wenn dieser Wind anhält, müssten wir es in fünf Tagen geschafft haben.«
»Und wenn ein Sturm aufkommt? Das würde das Boot nicht aushalten, oder?«
Sie hatte eine Art, einem in die Augen zu schauen, dass man die Wahrheit sagen musste.
»Nur wenn es sehr, sehr heftig stürmt«, antwortete ich.
»Aber wenn es nun sehr, sehr heftig stürmt?«, fragte sie beharrlich weiter.
Ich nickte. »Jeden Moment kann ein Robbenschoner auftauchen und uns an Bord nehmen. Der Ozean wimmelt von ihnen in dieser Gegend.«
»Meine Güte, Sie sind ja völlig verfroren!«, rief sie plötzlich. »Widersprechen Sie nicht, Sie schlottern am ganzen Körper. Und ich liege hier warm und gemütlich wie ein Säugling im Körbchen.« »Es würde keinem etwas nützen, wenn Sie auch noch hier säßen und
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