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Der Seewolf

Der Seewolf

Titel: Der Seewolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack London
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Winter haben wir lange genug Zeit um auszuruhen«, antwortete sie auf meine Ermahnungen. »Bestimmt werden wir uns nach einer Beschäftigung sehnen!«
    Nachdem das Dach meiner Hütte vollendet war, feierten wir ein bescheidenes Einzugsfest. Drei Tage lang hatte ein heftiger Sturm getobt, der die Kompassnadel von Südost auf Nordwest getrieben hatte und nun unsere Insel umtoste. Vor der äußeren Bucht donnerte die Brandung und sogar in unserem »Binnenhafen« brausten hohe Wellen. Der Sturm heulte so wütend um unsere Hütten, dass ich bisweilen fürchtete, sie würden nicht standhalten. Unser Felldach, das ich straff wie ein Trommelfell gespannt hatte, bauschte sich bei jedem Windstoß und die Mauern, deren Lücken Maud so sorgsam mit Moos verstopft hatte, zeigten noch zahlreiche Schwachstellen. Aber der Tran brannte hell und wir hatten es warm und gemütlich.
    Es war ein angenehmer Abend und wir freuten uns, dass es auch auf der Mühsalinsel gesellige Stunden wie diese gab. Wir fühlten uns wohl. Da wir gut für den Winter gerüstet waren, sahen wir dem Verschwinden der Robben gelassen entgegen. Sie konnten jetzt täglich zu ihrer geheimnisvollen Reise gen Süden aufbrechen. Auch der Sturm konnte uns nichts mehr anhaben. Außer einem warmen und trockenen Unterschlupf verfügten wir über luxuriöse weiche Matratzen. Die besten, die man aus Moos anfertigen kann. Sie waren Mauds Werk und sollten in dieser Nacht eingeweiht werden. Als sie ging, drehte sie sich noch einmal um und sah mich merkwürdig an.
    »Irgendetwas ist im Gange - etwas kommt auf uns zu, ich spüre es. Es kommt hierher, jetzt im Moment. Ich weiß nicht, was es ist, aber es kommt.«
    »Ist es gut oder schlecht?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, aber es ist irgendwo dort!« Sie zeigte in die Richtung von Wind und Meer.
    »Sie haben doch keine Angst, oder?«, fragte ich, während ich ihr die Tür öffnete. Sie schaute mich tapfer an. »Und Sie fühlen sich wohl? Rundum wohl?«
    »So wohl wie noch nie«, antwortete sie.
    »Gute Nacht, Maud.«
    »Gute Nacht, Humphrey.«
    Dass wir uns beim Vornamen nannten, hatte sich einfach ergeben. Es war die natürlichste Sache der Welt. Wie gern hätte ich sie in meine Arme genommen und an mich gezogen! In unserer gewohnten Welt hätte ich es bestimmt getan. Hier aber durfte es nicht geschehen. Doch als ich allein in meiner Hütte lag, durchglühte mich eine tiefe Zufriedenheit. Zwischen uns war ein Band entstanden, ein stillschweigendes Etwas, das es davor nicht gegeben hatte.

Ich erwachte mit einem merkwürdigen, bedrohlichen Gefühl. Irgendetwas in meiner Umgebung schien zu fehlen. Dann bemerkte ich, dass es der Wind war, der nicht mehr blies.
    Seit Monaten hatte ich zum ersten Mal wieder eine Nacht unter einem Dach verbracht. So genoss ich noch einige Minuten lang den Luxus, unbehelligt von Nebel oder Sprühregen in meinem trockenen, warmen Bett zu verweilen, auf einer Matratze, die Maud mit ihren eigenen Händen angefertigt hatte.
    Nachdem ich angekleidet war, öffnete ich die Tür. Noch immer schwappten Wellen gegen den Strand, Überbleibsel des tagelangen Sturmes. Es war ein klarer, sonniger Tag, ich hatte lange geschlafen und trat nun voller Tatendrang ins Freie.
    Wie vom Donner gerührt blieb ich stehen. Dort am Strand, keine fünfzig Fuß entfernt, lag ein Schiff ohne Mast mit völlig zerstörter Takelage. Beinahe hätte ich mir die Augen gerieben, weil ich kaum fassen konnte, was ich sah. Da war die Kombüse, die wir gezimmert hatten, der wohl bekannte Achteraufbau und die niedrige Kajüte, die die Reling nur knapp überragte. Es war die Ghost.
    Welche Laune des Schicksals hatte sie hierher verschlagen - ausgerechnet auf diese verlassene Insel? Ich musterte die düsteren, unbezwingbaren Felswände, die die Bucht einschlossen, und nackte Verzweiflung überfiel mich. Es gab kein Entrinnen! Ich dachte an Maud, die friedlich in ihrer Hütte schlummerte, erinnerte mich an ihr »Gute Nacht, Humphrey«, meine Frau, meine Gefährtin ... Mir wurde schwarz vor Augen, doch ich fasste mich schnell.
    Ich musste etwas unternehmen. Jetzt, sofort! Mit einem Mal fiel mir auf, dass sich an Bord nichts regte. Sie sind erschöpft von ihrem Kampf gegen den Sturm und liegen alle noch in ihren Kojen, dachte ich. Vielleicht konnten wir doch entkommen? Wenn wir das Boot nähmen und um die Landzunge fuhren, bevor jemand erwachte? Ich musste Maud sofort wecken!
    Doch als ich meine Hand schon erhoben

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