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Der Seewolf

Der Seewolf

Titel: Der Seewolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack London
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hatte, um ihre Tür zu öffnen, fiel mir ein, wie klein unsere Insel war. Wir konnten uns dort nicht verstecken, sie würden uns auf jeden Fall entdecken. Uns blieb nichts als der weite, raue Ozean. Ich dachte an unsere gemütlichen Hütten, unsere Fleischvorräte, den Tran, das Moos, das Feuerholz und mir war klar, dass wir den Winter und die bevorstehenden Stürme auf See nicht überleben würden.
    Sollte ich Maud töten, um ihr weiteres Leid zu ersparen? Plötzlich kam mir ein weit besserer Gedanke.
    Alle Männer auf der Ghost schliefen. Ich könnte an Bord schleichen, zu Wolf Larsens Koje, und ihn im Schlaf töten. Danach - nun, man würde sehen. Schlimmer konnte die Lage kaum werden. Das Messer steckte in meinem Gürtel. Ich holte das Gewehr aus meiner Hütte, versicherte mich, dass es geladen war, und eilte hinunter zur Ghost.
    Ich kletterte an Bord. Die Luke zur Back stand offen. Ich hielt inne, um auf den Atem der Männer zu lauschen, aber ich hörte nichts. Es gab keine Atemgeräusche. Seltsam ... Ich schnappte nach Luft, als mir der Gedanke durch den Kopf schoss, dass das Schiff verlassen sein könnte!
    Vorsichtig stieg ich die Treppe hinunter. Der Raum roch so kalt und muffig, wie es für eine leer stehende Behausung typisch war. Überall lagen Kleidungsstücke verstreut: alte Stiefel, schmieriges Ölzeug - all der wertlose Plunder einer langen Seefahrt.
    Die Männer mussten das Schiff in größter Eile verlassen haben, folgerte ich, während ich wieder an Deck stieg. Hoffnungsvoll sah ich mich um. Die Boote waren nicht mehr da. Im Zwischendeck sah es genauso aus wie in der Back. Die Jäger hatten ihre Sachen eilig zusammengerafft.
    Die Ghost war verlassen, sie gehörte jetzt Maud und mir. Ich dachte an all die Vorräte, die es an Bord noch gab, und an den Arzneikasten. Wie wäre es, wenn ich Maud mit einem schmackhaften Frühstück überraschte?
    Die Erleichterung darüber, dass meine Angst überflüssig gewesen war und ich nun auch jene schreckliche Tat nicht vollbringen musste, versetzte mich in jugendliche Ausgelassenheit. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprang ich die Treppe hinauf und hatte nichts anderes im Sinn als mein Überraschungsfrühstück für Maud. Als ich an der Kombüse vorüber kam, fielen mir all die fantastischen Küchengeräte ein. Ich sprang auf den Rand des Achteraufbaus und sah - Wolf Larsen!
    Er stand auf der Brücke, nur Kopf und Schultern waren zu sehen - und starrte mich an. Seine Arme lagen auf der halb offenen Luke. Er rührte sich nicht, stand einfach da und starrte mich an. Ich fing an zu zittern. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hielt mich mit einer Hand an dem Aufbau fest. Mein Mund war trocken. Meine alte Furcht vor diesem Mann packte mich und war noch um vieles stärker. Wir sprachen beide kein Wort, standen nur da und starrten uns an.
    Dann wurde mir bewusst, dass ich handeln musste. Ich hob mein Gewehr und richtete es auf Wolf Larsen. Hätte er sich bewegt, so hätte ich geschossen. Aber er stand unverändert und starrte mich an. Sein Gesicht sah verhärmt und abgezehrt aus. Auch seine Augen wirkten verändert. Als ob die Sehnerven und Muskeln verletzt wären und die Augäpfel sich verdreht hätten.
    Ich konnte nicht abdrücken. Ich ließ das Gewehr sinken und ging auf ihn zu. Dann hob ich erneut die Waffe. Nun konnte ich ihn nicht mehr verfehlen, jetzt gab es keine Hoffnung mehr für ihn. Aber ich konnte nicht abdrücken.
    »Nun?«, fragte er ungeduldig.
    Vergeblich bemühte ich mich den Finger zu krümmen und vergeblich mühte ich mich um ein Wort.
    »Warum schießen Sie nicht?«, fragte er.
    Ich räusperte mich, brachte aber dennoch keine Silbe heraus.
    »Hump«, sagte er langsam. »Sie schaffen es nicht. Sie sind unfähig. Sie sind ein Sklave Ihrer Moralvorstellungen, die Sie mit der Muttermilch aufgesaugt haben. Einen wehrlosen, unbewaffneten Mann tötet man nicht, oder?«
    »Ja«, sagte ich heiser.
    »Aber es ist Ihnen klar, dass ich einen unbewaffneten Menschen genauso leichtfertig töten würde, wie ich eine Zigarre rauche?«, fuhr er fort. »Sie haben mich als Schlange bezeichnet, als Tiger, Hai, Ungeheuer und Kaliban. Und trotzdem bringen Sie es nicht fertig, mich zu töten, Sie feiger Hund. Nur weil ich einem menschlichen Wesen ähnlich sehe. Ich hätte mehr von Ihnen erwartet, Hump!«
    Er kam auf mich zu. »Nehmen Sie die Flinte runter, ich brauche ein paar Auskünfte. Was ist das hier für ein Ort? Wo ist Maud - oh Verzeihung, Miss Brewster.

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