Der Seewolf
Oder sollte ich sie besser als Mrs van Weyden bezeichnen?«
Ich war vor ihm zurückgewichen, hielt das Gewehr aber weiterhin auf ihn gerichtet. Wenn er mich doch angreifen würde! Dann könnte ich ihn umbringen, da war ich mir sicher.
»Es ist die Mühsalinsel«, sagte ich. »Nie gehört.«
»Das ist unsere Bezeichnung für diese Insel«, erklärte ich.
»Unsere?«, fragte er. »Wieso ›unsere‹?«
»Miss Brewster und ich nennen sie so.«
»Hier muss es Robben geben«, meinte er. »Ihr Bellen hat mich geweckt. Vermutlich eine Kolonie. Seit Jahren bin ich hinter so etwas her! Dank meinem Bruder Tod bin ich endlich auf ein Vermögen gestoßen.«
»Wo sind die anderen Männer?«, fragte ich. »Wieso sind Sie allein hier?«
»Innerhalb von achtundvierzig Stunden hat mein Bruder mich geschnappt, aber es war nicht mein Fehler. Er enterte die Ghost in der Nacht, als nur eine Wache an Deck war. Die Jäger ließen mich im Stich. Er bot ihnen mehr - ganz unverblümt vor meinen Augen. Wie nicht anders zu erwarten, machte sich auch die Mannschaft aus dem Staub. Nur ich blieb da, ein Ausgesetzter auf meinem eigenen Schiff. Diesmal war Tod an der Reihe und es bleibt sowieso alles in der Familie!«
»Aber wodurch haben Sie die Masten verloren?«, fragte ich.
»Das war Köchleins Rache. Er hat die Taljereepe durchschnitten.«
»Nicht übel!«
»Ja, das dachte ich auch, als die ganze Chose über Bord ging. - Ich glaube, ich sollte mich jetzt hinsetzen und den Sonnenschein genießen.«
Ein leichter Anflug von Schwäche lag in seiner Stimme, sodass ich ihn überrascht anblickte. Er fuhr sich nervös mit der Hand übers Gesicht, als wollte er Spinnweben fortwischen. Das war nicht mehr der Wolf Larsen, den ich gekannt hatte.
»Was machen Ihre Kopfschmerzen?«
»Sie quälen mich immer noch«, antwortete er. »Anscheinend geht es gerade wieder los.« Er ließ sich auf den Boden gleiten und legte sich auf die Seite. Sein Kopf ruhte auf einem Arm, mit dem anderen wehrte er das Sonnenlicht ab. Verwundert beobachtete ich ihn. »Das ist Ihre Chance, Hump. Jetzt haben Sie mich da, wo Sie mich immer schon haben wollten.«
»Falsch«, entgegnete ich. »Ich hätte Sie lieber ein paar tausend Meilen weit weg von hier!«
Er kicherte, dann war er still. Er rührte sich auch nicht, als ich an ihm vorbei hinunter in die Kajüte ging. Aus den Vorräten der Ghost suchte ich so viel aus, wie ich tragen konnte: Marmelade, Zwieback, Fleischkonserven. Schwer beladen stieg ich wieder hinauf.
Wolf Larsen lag noch genauso auf den Planken wie vorher. Da lief ich in seine Kabine und verschaffte mir seine Revolver. Ich vergewisserte mich, dass es keine weiteren Waffen an Bord gab, und entfernte sämtliche scharfen Messer aus der Kombüse. Dann fiel mir das Klappmesser ein, das Wolf Larsen stets in der Tasche trug.
Als ich ihn leise ansprach, reagierte er nicht. Ich wurde lauter, aber er zeigte keinerlei Regung. So konnte ich ohne weiteres das Messer aus seiner Tasche nehmen. Danach war mir wohler. Da er nun keine Waffe mehr besaß, konnte er mich nicht von weitem angreifen. Ich aber konnte mich wehren, falls er mich mit seinen Gorillaarmen packen wollte.
Nachdem ich einen Teil meiner Beute in einer Kaffeekanne und einer Bratpfanne verstaut hatte, suchte ich noch ein bisschen Geschirr zusammen. Dann ließ ich Wolf Larsen in der Sonne liegen und ging an Land.
Maud schlief noch immer. Ich entfachte die Glut und machte mich eifrig an die Zubereitung des Frühstücks. Gerade, als alles fertig war und der Kaffee in den Tassen dampfte, tauchte sie auf.
»Das ist nicht fair«, schalt sie. »Wir haben abgemacht, dass die Mahlzeiten meine Sache sind.«
»Nur dieses eine Mal«, bat ich.
Zu meiner großen Freude schaute sie nicht zum Strand hinunter. Sie nippte Kaffee aus einer Porzellantasse und strich sich Marmelade auf einen Zwieback ohne stutzig zu werden. Doch plötzlich fasste sie ihren Teller ins Auge und Überraschung trat in ihr Gesicht. Während sie das gesamte Frühstück überblickte, entdeckte sie eine Neuerwerbung nach der anderen. Sie sah mich groß an, dann schaute sie hinunter zum Strand ...
»Humphrey!« Der alte, unsagbare Schrecken überschattete ihr Gesicht. »Ist ... er ... ?«
Ich nickte mit dem Kopf.
Den ganzen Tag über warteten wir auf Wolf Larsen. Er kam nicht. Er erschien nicht einmal an Deck.
»Wahrscheinlich wegen seiner Kopfschmerzen«, vermutete ich. »Ich sollte wohl nach ihm sehen.«
Maud sah mich entsetzt
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