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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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jeder, der beweist, daß er eine Großstadt regieren kann, automatisch zu einem potentiellen Präsidenten; und wenn New York Quinn nicht bräche, so wie es Lindsay in den Sechzigerjahren brach, dann würde er in ein oder zwei Jahren im Lande bekannt sein. Und dann…
    Und dann…
    Im frühen Herbst ‘97 – die Bürgermeisterwahlen waren schon so gut wie gewonnen – fing ich an, mich in einer Weise, die ich bald als Besessenheit erkannte, mit Quinns Chancen für eine Kandidatur um das Präsidentenamt zu befassen. Ich fühlte ihn als Präsidenten, wenn nicht im Jahre 2000, dann vier Jahre später. Aber nur diese Vorhersage zu machen, war mir nicht genug. Ich spielte mit Quinns Präsidentschaft so, wie ein kleiner Junge mit sich selber spielt, ich erregte mich an der Idee, bezog Lust aus ihr, ließ mich von ihr hochbringen.
    Im stillen, im geheimen – denn ich schämte mich solcher voreiligen Kalküle. Ich wollte nicht, daß kaltäugige Profis wie Mardikian und Lombroso wußten, daß ich schon in dunstige masturbatorische Fantasien von der fernen, glühenden Zukunft unseres Helden verstrickt war; allerdings vermute ich, daß sie inzwischen selbst ähnliche Gedanken dachten – ich stellte endlose Listen von Politikern auf, die wir uns warm halten müßten, in Kalifornien und Florida und Texas, skizzierte die Dynamik der nationalen Wählerblocks aufs Papier, heckte verwickelte Schemata aus, die die Machtstrudel eines nationalen Nominierungskonvents darstellten, ich durchspielte eine Unendlichkeit simulierter Szenarios für die Wahl selbst. Das alles war, wie ich sage, zwanghafter Natur, das heißt, ich kehrte wieder und wieder, eifrig, ungeduldig, unabbringbar, in jedem freien Moment zu meinen Projektionen und Analysen zurück.
    Jeder hat irgend so eine Besessenheit, eine Manie, mit der er die Konstruktion, die sein Leben ist, stützt: So machen wir uns zu Briefmarkensammlern, Gärtnern, Sportfliegern, Marathon-Wanderern, Schnupfern, Hurenböcken. Alle haben wir in uns die gleiche Leere, und alle füllen wir diese Leere im wesentlichen auf die gleiche Weise, egal, was für eine Füllung für den Hohlraum wir wählen. Will sagen, wir suchen uns die Kur aus, die uns am meisten zusagt, aber wir haben alle die gleiche Krankheit.
    So träumte ich meine Träume vom Präsidenten Quinn. Zum einen war ich der Meinung, daß ihm der Job zustand. Er war nicht nur ein mitreißender Führer, sondern auch human, aufrichtig und sensibel für die Nöte des Volkes. (Das heißt, seine politische Philosophie klang ganz wie die meine.) Zum anderen aber fand ich in mir den Drang und Bedarf, die Karriere anderer Menschen zu befördern – aufzusteigen im Schatten derer, denen ich unauffällig mit meinen stochastischen Fähigkeiten diente.
    Eine gewisse unterirdische Befriedigung lag darin für mich, die einem komplexen Machthunger, verbunden mit dem Wunsch nach Selbstverleugnung, entwuchs, dem Gefühl, daß ich am unverletzbarsten war, wenn man mich nicht sehen konnte. Ich konnte nicht selbst Präsident werden; ich war nicht willens, den ganzen Wirbel, die Anstrengung, die Exponiertheit und den grimmen, grundlosen Haß auf mich zu nehmen, den die Öffentlichkeit so gerne auf die richtet, die ihre Liebe suchen. Aber indem ich meine Kraft daran setzte, Paul Quinn zum Präsidenten zu machen, konnte ich dennoch ins Weiße Haus schlüpfen, durch die Hintertür, ohne mich verwundbar zu machen, ohne das wirkliche Risiko einzugehen. Da haben Sie – schonungslos enthüllt – die Wurzel meiner Besessenheit. Ich wollte Paul Quinn benutzen und ihn ruhig denken lassen, er benütze mich. Ich hatte mich, au fond, mit ihm identifiziert: Für mich war er mein alter ego, meine lebende Maske, mein Werkzeug, meine Marionette, mein Mann im Vordergrund. Ich wollte herrschen. Ich wollte Macht. Ich wollte Präsident, König, Kaiser, Papst, Dalai Lama sein. Nur mit Quinn würde ich dahin gelangen, das war für mich der einzige Weg. Ich würde die Zügel des Mannes halten, der die Zügel hielt. Und so würde ich mein eigener Vater sein und jedermanns großer Daddy dazu.
     
11
    Da gab es einen frostigen Tag gegen Ende März ‘99, der wie die meisten anderen Tage begann, seit ich für Paul Quinn gearbeitet hatte, aber noch vor Nachmittag auf ein unerwartetes Gleis geriet. Wie gewöhnlich stand ich um Viertel nach sieben auf. Sundara und ich duschten zusammen – der Vorwand dafür war Wasser- und Energieersparnis, aber in Wirklichkeit waren wir beide

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