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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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anderen Selbst dort drüben anschließt, erwische ich es dabei, wie es sich seiner Vergangenheit erinnert, die meine Zukunft hier ist.«
    »Sehr fein.«
    »Ja. Der normale Mensch, der auf ein einziges Universum beschränkt ist, kann nach Belieben in seinem Gedächtnis herumschweifen, er kann sich frei in seiner eigenen Vergangenheit ergehen. Aber ich habe Zutritt zum Gedächtnis eines Menschen, der in der entgegengesetzten Richtung lebt, was mir erlaubt, mich sowohl an die Vergangenheit als auch an die Zukunft zu >erinnern<. Das heißt, falls die Theorie der zwei Zeitlinien korrekt ist.«
    »Und ist sie das?«
    »Wie soll ich das wissen?« fragte Carvajal. »Es ist nur eine plausible Arbeitshypothese, um zu erklären, was bei meinem Sehen passiert. Aber wie soll ich sie überprüfen?«
    Nach einer Weile fragte ich: »Die Dinge, die Sie sehen – erscheinen die Ihnen in umgekehrter chronologischer Ordnung? Die Zukunft, die sich in einer fortlaufenden Bildrolle enthüllt, so etwas Ähnliches?«
    »Nein. Nie. Genauso wenig wie Ihre Erinnerungen eine einzige fortlaufende Bildrolle bilden. Ich bekomme unregelmäßige Einblicke. Bruchstücke von Szenen, manchmal längere Passagen, die anscheinend eine Zeitdauer von zehn oder fünfzehn Minuten, oder mehr, umspannen, aber immer in willkürlichem Durcheinander, nie in linearer Folge. Ich habe gelernt, das größere Muster selbst zu finden, mich an Passagen zu erinnern und sie in einer wahrscheinlichen Ordnung aneinander zu hängen. Es war so, wie wenn man lernt, babylonische Gedichte zu lesen, indem man Keilschrift-Inschriften auf zerbrochenen, durcheinandergeratenen Steinen entziffert. Allmählich entwickelte ich ein System von Anhaltspunkten, das mich bei meinen Rekonstruktionen der Zukunft leitete: Das ist mein Gesicht mit Vierzig, mit Fünfzig, mit Sechzig, das sind die Kleider, die ich von 1965 bis 1973 getragen habe, das ist die Zeit, in der ich einen Schnurrbart hatte, in der mein Haar dunkel war, oh, ein ganzer Haufen kleiner Referenzen, Assoziationen und Fußnoten, die mir mit der Zeit so vertraut wurden, daß ich jede Szene, die ich sah, selbst die kürzeste, auf Wochen oder sogar auf Tage genau datieren konnte. Zuerst war das nicht leicht, aber inzwischen ist mir das zweite Natur.«
    »Sehen Sie jetzt, in diesem Augenblick?«
    »Nein«, sagte er. »Es bedarf einer Anstrengung, den Zustand herbeizuführen. Er ähnelt weitgehend einer Trance.« Ein Hauch von Winter flog über sein Gesicht. »In seiner machtvollsten Form handelt es sich um eine Art Doppelvision, eine Welt liegt über der anderen, so daß ich nicht ganz sicher sagen kann, in welcher Welt ich lebe und welche Welt ich sehe. Selbst nach all diesen Jahren komme ich mit diesem Verlust der Orientierung, dieser Verwirrung, nicht ganz zurecht.« Ein Zittern schien durch ihn zu fahren. »Gewöhnlich ist es nicht so intensiv. Wofür ich dankbar bin.«
    »Könnten Sie mir zeigen, wie es ist?«
    »Hier? Jetzt?«
    »Bitte.«
    Er musterte mich lange. Er leckte seine Lippen, preßte sie zusammen, warf die Stirn in Falten, überlegte. Dann änderte sich sein Ausdruck abrupt, seine Augen wurden glasig und starr, als sähe er einen Film von der letzten Reihe eines riesigen Kinos aus oder als fiele er in tiefe Meditation. Seine Pupillen weiteten sich, und die Öffnung blieb, unabhängig von den Lichtschwankungen, die an uns vorbeigehende Leute auslösten, konstant. Sein Gesicht sprach deutlich von einer großen Anstrengung. Sein Atem ging langsam, rau und regelmäßig. Er saß vollkommen reglos; er schien ganz und gar abwesend. Eine Minute vielleicht verstrich; mir war sie unerträglich lang. Dann zerfiel seine Starre wie ein fallender Eiszapfen. Er wurde locker. Schultern sackten nach vorne; mit einem raschen Stoß trat Farbe in seine Wangen; seine Augen tränten und wurden trüb; mit bebender Hand griff er nach seinem Wasserglas und schluckte dessen Inhalt gierig hinunter wie ein Verdurstender. Er sagte nichts. Ich wagte nicht zu sprechen.
    Schließlich fragte Carvajal: »Wie lang war ich weg?«
    »Nur einige Augenblicke. Es kam mir viel länger vor, als es tatsächlich war.«
    »Für mich war es eine halbe Stunde, mindestens.«
    »Was haben Sie gesehen?«
    Er zuckte die Achseln. »Nichts, das ich nicht schon einmal gesehen hätte. Die Szenen wiederholen sich, wissen Sie, fünf-, zehn-, zwanzigmal. Wie in der Erinnerung. Aber Erinnerung verändert die Dinge. Die Szenen, die ich sehe, ändern sie nie.«
    »Möchten Sie

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