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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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stellen. Ich hatte gekniffen. Quinn würde bei der Einweihung reden. Quinn würde seine blöden Witze über Israel machen. Mrs. Goldstein würde murren; Mr. Rosenblum würde fluchen. Der Bürgermeister würde sich unnötig Feinde machen, die Times eine saftige Geschichte haben, und wir würden uns befleißigen, den politischen Schaden zu reparieren; Carvajal hätte wieder einmal recht gehabt. Es wäre so leicht gewesen einzugreifen, sagen sie. Warum nicht das System testen? Herausfinden, ob er bluffte. Seiner Behauptung, die Zukunft, einmal erspäht, gliche einer in Stein gemeißelten Inschrift, auf den Zahn fühlen. Nun, ich hatte es nicht getan. Ich hatte meine Chance gehabt und Angst, sie zu ergreifen, als ob ich heimlich wüßte, daß die Sterne auf ihren Bahnen in Verwirrung stürzen würden, wenn ich mich in den Lauf der Dinge einmischte. So hatte ich mich also der angeblichen Unvermeidlichkeit des Ganzen fast kampflos ergeben. Aber hatte ich wirklich so leicht nachgegeben? Hatte ich je wirkliche Handlungsfreiheit gehabt? War nicht auch mein Nachgeben vielleicht ein Teil des unabänderlichen, ewigen Drehbuchs?
     
22
    Jeder hat die Gabe, hatte Carvajal zu mir gesagt. Nur sehr wenige wissen damit umzugehen. Und er hatte von einer Zeit geredet, in der ich selbst würde sehen können. Wenn Sie selbst… Nicht >falls<, sondern >wenn<.
    Beabsichtigte er, die Gabe in mir zu erwecken?
    Der Gedanke erschreckte und erregte mich. In die Zukunft zu sehen, von Zufall und Unerwartetem nicht mehr herumgestoßen zu werden, von den dunstigen Ungenauigkeiten der stochastischen Methode zu absoluter Gewißheit voranzuschreiten – oh ja, ja, ja, wie wunderbar, aber wie furchterregend auch! Jene dunkle Türe aufzustoßen, auf die Straße der Zeit hinauszublicken, auf die wartenden Wunder und Geheimnisse -
    Ein Bergmann will zur Arbeit gehn, Da hört er, wie sein Töchterlein weint. Er tritt ans Bett, nach ihr zu sehn. Sie sagt, Vater, ich hab’ so bang geträumt.
    Furchterregend, weil ich wußte, daß ich etwas sehen könnte, das ich nicht sehen wollte und das mich auszehren und zerschlagen könnte, so wie Carvajal augenscheinlich vom Wissen um seinen Tod ausgezehrt und zerschlagen worden war. Wunderbar, denn Sehen hieße, dem Chaos des Unbekannten zu entrinnen, es bedeutete die Errungenschaft jenes völlig strukturierten, völlig geregelten Lebens, nach dem ich mich sehnte, seitdem ich meinen jugendlichen Nihilismus gegen die Philosophie der Kausalität eingetauscht hatte.
    Bitte, Vater, geh heut nicht in den Schacht, Mein Vater, mein Vater, bleib hier, Denn oft werden wahr die Träume der Nacht, Und was wird ohne dich aus mir.
    Wenn aber Carvajal wirklich einen Weg wußte, die Gabe in mir zum Leben zu erwecken, dann würde ich sie – so gelobte ich – anders handhaben; würde nicht zulassen, daß sie einen verwelkten Einsiedler aus mir machte, würde mich nicht passiv den Beschlüssen irgendeines unsichtbaren Drehbuchschreibers unterwerfen und nicht wie Carvajal ein Marionettendasein akzeptieren. Nein, ich würde die Gabe auf aktive Weise nutzen, ich würde mit ihrer Hilfe den Gang der Geschichte formen und steuern, ich würde mit meinem besonderen Wissen die Muster des menschlichen Dramas ändern und neu ausrichten, soweit ich dazu in der Lage wäre.
    Im Traum hab’ ich Feuer im Stollen gesehn, Um ihr Leben kämpften die Hauer. Dann wechselt das Bild, und an Gräbern stehn Frauen und Kinder in Trauer.
    Solche Formung und Steuerung war laut Carvajal unmöglich. Unmöglich für ihn, vielleicht; aber würden seine Grenzen auch für mich gelten? Selbst wenn die Zukunft feststeht und nicht zu ändern ist, so könnte man doch mit dem Wissen des Künftigen immer noch Schläge mildern, Energien eine neue Richtung geben, aus dem Untergang alter Muster neue schaffen. Ich würde es versuchen. Lehre mich sehen, Carvajal, und laß es mich versuchen!
    Bitte, Vater, geh heute nicht in den Schacht, Mein Vater, mein Vater, bleib hier. Denn oft werden wahr die Träume der Nacht, Und was wird ohne dich aus mir.
     
23
    Sundara verschwand Ende Juni, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, und war fünf Tage lang weg. Ich benachrichtigte die Polizei nicht. Als sie zurückkehrte und keinerlei Erklärung gab, fragte ich sie nicht, wo sie gewesen war. In Bombay vielleicht wieder, in Tierra del Fuego, Capetown, Bangkok, mir war es einerlei. Ich wurde langsam ein guter Transit-Ehemann. Vielleicht hatte sie die fünf Tage flach ausgestreckt auf dem

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