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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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nicht sehen, was sein Bewußtsein nicht zu guter Letzt irgendwie einmal wahrnähme; und was er nicht sehen konnte, konnte er mir nicht weiterreichen. Eigentlich tat ich nichts anderes, als mir selbst Botschaften aus der Zukunft zuzusenden – über die Zwischenstation Carvajal. Die Dinge, mit denen ich ihn heute fütterte, waren für diesen Zweck natürlich wertlos, da das Ich der Gegenwart sie bereits kannte; aber was ich ihm in einem Moment sagen würde, könnte für mich heute von Bedeutung sein, und da die Information an irgendeinem Punkt in das System hineinkommen mußte, begann ich den Input hier und fütterte Carvajal mit den Daten, die er vor Monaten oder sogar vor Jahren gesehen hatte.
    Im Lauf des verbleibenden Jahres seines Lebens würde Carvajal zu einer einzigartigen Fundgrube zukünftiger politischer Ereignisse werden. (In der Tat war er schon jene Fundgrube, aber ich mußte jetzt konsequent sicherstellen, daß er die Information auch erhielt, die er, wie wir beide wußten, erhalten würde. All dies beinhaltet Paradoxien, aber ich ziehe es vor, sie nicht allzu genau zu untersuchen.)
    Und Tag für Tag fütterte Carvajal Daten an mich zurück – hauptsächlich betrafen sie die langfristige Formung von Quinns Schicksal. Ich reichte sie gewöhnlich an Haig Mardikian weiter, obwohl einige in den Zuständigkeitsbereich George Missakians fielen – Medienkontakte – und einige, die finanzielle Dinge berührten, an Lombroso gingen; einige überbrachte ich direkt Quinn selbst. Die Memos, die ich in einer typischen Woche von Carvajal bezog, sahen ungefähr so aus:
    Den Stadtentwicklungsreferenten, Spreckels, zum Mittagessen einladen. Möglichkeit eines Richteramtes andeuten.
    Zur Hochzeit des Sohnes von Senator Wilkom aus Massachusetts gehen.
    Vertrauliche Mitteilung an Con Ed: keine Hoffnung auf Okay für geplante Fusionsanlage in der Flatbush St.
    Bruder des Gouverneurs – zum Leiter der Triboro-Kommission ernennen. Dem Vorwurf der Vetternwirtschaft mit Witzen auf Pressekonferenz zuvorkommen.
    Auf den Sprecher des Staatsparlaments, Feinberg, in Sachen NY-Mass-Conn-Hubschrauber-Zusammenschluß leisen Druck ausüben.
    Positionspapiere: Bibliotheken, Drogen, Bevölkerungsfluß zwischen den Staaten.
    Rundgang durch Textilviertel, historische Stätten mit neuem israelischen Generalkonsul. Dazu auch einladen: Leibman, Berkowitz, Mr. Weisbard, Rabbi Dubin; ebenfalls: Msgr. O’Neill.
    Manchmal konnte ich verstehen, warum mein zukünftiges Selbst Quinn diese oder jene Handlungsweise empfahl; manchmal war ich vollkommen ratlos. (Warum zum Beispiel sollte er gegen eine harmlose Vorlage des Stadtrats, die ein Parkverbot für eine Zone im Süden der Canal Street aufheben wollte, sein Veto einlegen? Wie würde ihm das helfen, Präsident zu werden?) Carvajal gab keine Hilfe. Er reichte lediglich Tipps weiter, die er von mir, von meinem Selbst in acht oder neun Monaten, erhielt. Da er tot sein würde, bevor die meisten dieser Vorgänge ihre letzten Auswirkungen manifestierten, hatte er von ihren Folgen keine Ahnung, und sie waren ihm auch völlig gleichgültig. Was er mir gab, gab er mir mit der Einstellung eines höflichen Sie-können’s-nehmen-oder-lassen. Nach dem Warum sollte ich nicht fragen. Dem Drehbuch folgen, Lew, dem Drehbuch folgen.
    Ich folgte dem Drehbuch.
    Meine politischen Ambitionen nahmen allmählich den Charakter einer göttlichen Mission an: Mit Hilfe von Carvajals Gabe und Quinns Charisma würde ich in der Lage sein, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln; näher bestimmt war das Ideal nicht. Ich spürte die vibrierenden Fäden der Macht in meinem Griff. Während ich vorher Quinns Präsidentschaft als ein in sich selbst gültiges Ziel betrachtet hatte, wurde ich in meinen Plänen für eine Welt, die von der Fähigkeit des Sehens gelenkt werden würde, nun praktisch zum Utopier. Ich dachte nicht mehr in Begriffen der Manipulation, der Verschiebung von Motivationen, politischer Machenschaften, es sei denn, sie standen im Dienste des höheren Zieles, für das ich mich arbeiten sah.
    Tag für Tag strömten meine Memos zu Quinn und seinen Handlangern. Mardikian und der Bürgermeister nahmen an, daß es sich dabei um Resultate meiner eigenen Projektionen handelte, um das Produkt meiner Umfragen, meiner Computer und meines allerliebsten schlauen Großhirns. Da die Trefferbilanz meiner stochastischen Einsicht über die Jahre durchweg ausgezeichnet gewesen war, handelten sie nach meinen Weisungen. Ohne zu

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