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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Zellen, auf der Ebene des Stoffwechsels und der Zellteilung. Ihr Herz hat seit dreißig Jahren oder so keinen Schlag ausgelassen, und es weiß, es wird nie einen auslassen. Ihr Körper tummelt sich fröhlich wie eine Drei-Schichten-Fabrik, die rund um die Uhr Blutkörperchen, Lymphe, Samen, Speichel herstellt, und soviel Ihr Körper weiß, wird er das immer tun. Und Ihr Hirn, das sieht sich selbst als das Zentrum eines großen Dramas, dessen Star Lew Nichols ist, und das ganze Universum ist für den Star nur eine riesige Ansammlung von Requisiten, alles was passiert, passiert um Sie herum, in bezug auf Sie, Sie sind der Dreh- und Angelpunkt, und wenn Sie auf die Hochzeit von Freunden gehen, dann heißt diese Szene nicht Dick und Judy heiraten, nein, sie heißt Lew geht auf eine Hochzeit, und wenn ein Politiker gewählt wird, heißt es nicht Paul Quinn wird Präsident, sondern Lew erlebt, wie Paul Quinn Präsident wird, und wenn ein Stern explodiert, heißt die Überschrift nicht Beteigeuze verschwunden, sondern Lews Universum verliert einen Stern, und so weiter, bei jedem dasselbe, jeder ist der Held des großen Schauspiels der Existenz; Dick und Judy haben, jeder für sich im eigenen Kopf, die Starrolle, Paul Quinn, vielleicht sogar Beteigeuze, und jeder von euch meint, wenn er sterben sollte, würde das ganze Universum verlöschen müssen wie ein ausgeschaltetes Licht, und das ist unmöglich, und daher wird er nicht sterben. Jeder weiß, er ist die eine Ausnahme. Hält die ganze Sache mit seiner fortdauernden Existenz zusammen. Sie wissen wohl, Lew, all die anderen, die werden sterben; klar, das sind die Nebenrollen, die Lanzenträger, die müssen laut Textbuch irgendwann verschwinden, aber nicht Sie, o nein, nicht Sie! Ist das nicht wirklich so, Lew, drunten im Keller Ihrer Seele, drunten auf den geheimnisvollen Ebenen, die Sie nur ab und zu besuchen?«
    Ich mußte grinsen. »Schon möglich, daß es doch so ist. Aber…«
    »Es ist so. Es ist bei jedem dasselbe. Für mich war es genauso. Nun, aber die Menschen sterben wirklich, Lew. Einige mit zwanzig und einige mit hundertzwanzig, und immer kommt es als eine Überraschung. Da stehen sie und sehen, wie sich plötzlich die große Finsternis vor ihnen öffnet – und wie sie in das Loch hineingehen, sagen sie, mein Gott, ich habe mich doch geirrt, es erwischt mich wirklich, auch mich! Was für ein Schock das ist, was für ein fürchterlicher Schlag für das Ego, daß sie nicht die einzigartige Ausnahme sind, für die sie sich hielten. Aber bis dieser Augenblick kommt, ist es sehr beruhigend, sich an den Gedanken zu klammern, daß sie vielleicht entwischen werden, daß sie irgendwie davonkommen. Jeder hat zum Leben diesen Fetzen Trost, Lew. Jeder außer mir.«
    »Sehen war so schlimm?«
    »Es hat mich vernichtet. Es hat mir die eine große Illusion geraubt, Lew, die heimliche Hoffnung, unsterblich zu sein, die uns weitermachen läßt. Natürlich mußte ich weitermachen, dreißig Jahre oder mehr, weil ich gesehen hatte, daß es mich erst als alten Mann treffen würde. Aber das Wissen hat eine Mauer um mein Leben gezogen, eine Grenze, ein unzerbrechliches Siegel. Ich war kaum mehr als ein Junge und hatte schon den wirklichen Schlußstrich mitbekommen, den Punkt am Ende des Satzes. Ich konnte nicht darauf bauen, mein Leben ewig zu genießen, wie das die anderen tun. Ich hatte nur meine dreißig Jahre vor mir. Wenn Sie so etwas wissen, dann schnürt das Ihr Leben ein, Lew. Es beschränkt Ihre Möglichkeiten.«
    »Es fällt mir nicht leicht zu verstehen, warum es diese Wirkung haben sollte.«
    »Einmal werden Sie es verstehen.«
    »Vielleicht wird es für mich nicht so sein, wenn ich das Wissen habe.«
    »Ah!« rief Carvajal. »Wir alle denken, wir wären die Ausnahme!«
     
27
    Als wir uns das nächste Mal trafen, erzählte er mir, wie er sterben würde. Er habe nur noch knapp ein Jahr zu leben, sagte er. Es würde im Frühling des Jahres 2000 passieren, irgendwann zwischen dem zehnten April und dem fünfundzwanzigsten Mai; obwohl er behauptete, den genauen Zeitpunkt bis hin zur Stunde des Tages zu kennen, wollte er ihn mir doch nicht verraten.
    »Warum halten Sie das vor mir zurück?« fragte ich.
    »Weil ich keine Lust habe, mich mit Ihrer persönlichen Spannung und Erwartung zu belasten«, sagte Carvajal derb. »Ich möchte nicht, daß Sie, wenn Sie an dem Tag zu mir kommen, wissen, daß es der Tag ist, und lauter irrelevante, verworrene Gefühle

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