Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
wäre?«
    Ich zuckte die Achseln. »Das Risiko nehme ich auf mich. Ist es für Sie ein Fluch gewesen?«
    Carvajal antwortete nicht gleich, sondern blickte zu mir auf, seine Augen suchten meine. Das war der richtige Augenblick für zuckende Blitze und fürchterliche Donnerschläge, für peitschenden Sturmregen. Nichts dergleichen geschah. Absurderweise teilten sich die Wolken direkt über uns, und süßes, weiches, gelbes Sonnenlicht umfing die dunklen Sturmesrunzeln. Soviel für Mutter Natur als Kulissenschieberin.
    »Ja«, sagte Carvajal ruhig. »Ein Fluch. Wenn irgend etwas, dann ein Fluch, ein Fluch.«
    »Ich glaube Ihnen nicht.«
    »Was macht mir das aus?«
    »Selbst wenn es für Sie ein Fluch war, glaube ich nicht, daß es für mich auch so wäre.«
    »Sehr mutig, Lew. Oder sehr töricht.«
    »Beides. Nichtsdestoweniger, ich möchte auch sehen können.«
    »Sind Sie bereit, mein Jünger zu werden?«
    Sonderbares, aufschreckendes Wort. »Was würde das bedeuten?«
    »Ich habe es Ihnen schon gesagt. Sie übergeben sich mir, ohne Fragen zu stellen, ohne Garantien zu erhalten.«
    »Wie wird mir das helfen zu sehen.«
    »Ohne Fragen zu stellen«, sagte er. »Sie müssen sich einfach mir auf Treu und Glauben ausliefern, sich mir völlig überantworten, Lew.«
    »Abgemacht.«
    Die Blitze kamen. Die Himmel taten sich auf, und ein verrückter Guß trommelte mit unglaublicher Wut auf uns nieder.
     
26
    Anderthalb Tage später: »Das Schlimmste ist«, sagte Carvajal, »wenn man seinen eigenen Tod sieht. Das ist der Moment, wo das Leben aus einem schwindet, nicht wenn man tatsächlich stirbt, sondern wenn man es sehen muß.«
    »Ist das der Fluch, den Sie gemeint haben?«
    »Ja, das ist der Fluch. Das ist es, was mich umgebracht hat, Lew, lange vor meiner Zeit. Ich war gerade dreißig Jahre alt, als ich ihn das erste Mal sah. Seitdem habe ich ihn viele Male gesehen. Ich kenne das Datum, die Stunde, den Ort, die Umstände. Ich habe es wieder und wieder durchlitten, den Anfang, die Mitte, das Ende, die Dunkelheit, das Schweigen. Und nachdem ich es einmal gesehen habe, war das Leben für mich nur noch ein sinnloses Puppentheater.«
    »Was war das Schlimmste«, fragte ich, »zu wissen, wann; zu wissen, wie?«
    »Zu wissen, daß«, sagte er.
    »Daß Sie überhaupt sterben würden?«
    »Ja.«
    »Ich verstehe nicht. Ich meine, es muß bestürzend sein, ja, sich selbst beim Sterben zuzusehen, seinen eigenen Abgang wie in einer Nachrichtenschau zu sehen, aber das kann doch keine fundamentale Überraschung auslösen, oder? Ich meine, der Tod ist unvermeidlich, und das wissen wir doch alle schon als kleine Kinder.«
    »Wissen wir?«
    »Natürlich.«
    »Glauben Sie, daß Sie sterben werden, Lew?«
    Ich riß die Augen auf. »Natürlich.«
    »Sind Sie absolut überzeugt davon?«
    »Ich kapiere Sie nicht. Wollen Sie andeuten, ich hätte Illusionen von Unsterblichkeit?«
    Carvajal lächelt heiter. »Jeder hat sie, Lew. Als Sie ein Junge waren, starb Ihr Lieblingsgoldfisch oder Ihr Hund, und Sie sagten, nun, Goldfische leben nicht lang. Hunde leben nicht lang, und so haben Sie Ihre erste Erfahrung mit dem Tod abgeschüttelt. Es gilt nicht für Sie. Der Junge von nebenan fällt vom Fahrrad und bricht sich den Schädel. Nun, sagen Sie, Unfälle kommen vor, aber sie beweisen nichts; einige Leute sind weniger vorsichtig als andere, und ich bin einer von den vorsichtigen. Ihre Großmutter stirbt. Sie war alt und seit Jahren krank, sagen Sie, sie hat sich zu fett werden lassen, sie ist in einer Generation aufgewachsen, in der Vorsorgemedizin erst primitiv entwickelt war, sie hat sich nicht richtig um ihren Körper gekümmert. Das wird mir nicht passieren, sagen Sie, mir nicht.«
    »Meine Eltern sind tot. Meine Schwester ist gestorben. Ich hatte eine Schildkröte, die gestorben ist. Der Tod ist in meinem Leben nichts Fernes und Unwirkliches. Nein, Carvajal, ich glaube an den Tod. Ich akzeptiere die Tatsache des Todes. Ich weiß, ich werde sterben.«
    »Nicht wirklich.«
    »Wie können Sie das sagen?«
    »Ich weiß, wie die Menschen sind. Ich weiß, wie ich war, bevor ich mich sterben sah, und was danach aus mir wurde. Nicht viele haben diese Erfahrung gehabt, haben sich verändert; wie ich mich verändert habe. Vielleicht noch nie jemand. Hören Sie mir gut zu, Lew. Niemand glaubt wirklich und ganz, daß er sterben wird, egal, was er meint zu glauben. Hier oben im Kopf akzeptieren Sie es vielleicht, aber Sie akzeptieren es nicht auf der Ebene der

Weitere Kostenlose Bücher