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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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daherbringen.«
    »Werde ich dabeisein?« fragte ich erstaunt.
    »Sicher.«
    »Werden Sie mir sagen, wo es passieren wird?«
    »In meiner Wohnung«, sagte er. »Sie und ich werden ein Problem besprechen, das Ihnen zu der Zeit zu schaffen machen wird. Die Türglocke wird läuten. Ich werde öffnen, und ein Mann wird gewaltsam in die Wohnung eindringen, ein bewaffneter Mann mit rotem Haar, der…«
    »Warten Sie. Sie haben mir einmal gesagt, daß Sie in Ihrem Wohnviertel noch nie jemand belästigt habe und niemand es je tun werde.«
    »Niemand, der dort lebt«, sagte Carvajal. »Dieser Mann wird ein Fremder sein. Meine Adresse hat er durch ein Versehen bekommen – er hat die falsche Wohnung erwischt – und will eine Drogenlieferung abholen, etwas für Fixer. Ich sage ihm, daß ich keine Drogen habe, aber er wird mir nicht glauben; er wird denken, ich wolle ihn hereinlegen, und wird wütend werden, er wird mit der Pistole herumfuchteln und mir drohen.«
    »Und was tue ich bei alledem?«
    »Sie beobachten.«
    »Beobachten? Ich stehe einfach nur da mit verschränkten Armen wie ein Zuschauer?«
    »Wie ein Zuschauer«, sagte Carvajal. »Sie beobachten nur.« In seinen Worten war ein scharfer Ton. Als gäbe er mir einen Befehl: Sie werden nichts tun in dieser ganzen Szene. Sie werden sich völlig raushalten, abseits, ein bloßer Zuschauer.
    »Ich könnte ihn mit einer Lampe niederschlagen. Ich könnte versuchen, ihm die Pistole zu entreißen.«
    »Das werden Sie nicht.«
    »In Ordnung«, sagte ich. »Was passiert weiter?«
    »Jemand klopft an der Wohnungstür. Einer meiner Nachbarn, der den Lärm gehört hat und sich um mich Sorgen macht. Der Gangster verliert die Nerven. Denkt, es ist die Polizei oder vielleicht eine rivalisierende Bande. Er feuert dreimal; dann zerschlägt er ein Fenster und verschwindet über die Feuerleiter. Die Kugeln treffen mich in der Brust, im Arm und in der Schläfe. Für eine Minute oder so bin ich noch da. Keine letzten Worte. Sie erleiden überhaupt keinen Schaden.«
    »Und dann?«
    Carvajal lachte. »Und dann? Und dann? Wie soll ich das wissen? Ich habe Ihnen doch gesagt: Ich sehe wie durch ein Periskop. Das Periskop reicht nur bis zu diesem Augenblick, kein bißchen weiter. Wahrnehmung hört da auf für mich.«
    Wie ruhig er das sagte!
    »Ist es das, was Sie sahen, als wir im Club der Handelsherren und Reeder beim Mittagessen waren?« fragte ich.
    »Ja.«
    »Sie sehen zu, wie Sie über den Haufen geschossen werden, und verlangen dann die Speisekarte, als ob nichts wäre?«
    »Die Szene war mir nicht neu.«
    »Wie oft haben Sie sie gesehen?« fragte ich.
    »Keine Ahnung. Zwanzig-, fünfzig-, vielleicht hundertmal. Wie ein wiederkehrender Traum.«
    »Ein wiederkehrender Alptraum.«
    »Man gewöhnt sich daran. Nach zehn Vorführungen oder so ist die Sache emotionell überhaupt nicht mehr sehr stark geladen.«
    »Es ist für Sie nichts anderes als ein Film? Ein alter Cagney-Streifen in der Spätvorstellung?«
    »So etwa«, sagte Carvajal. »Die Szene selbst wird trivial, langweilig, schal, vorhersagbar. Die Folgerungen sind es, die dauern, die niemals ihre Gewalt über mich verlieren, während die konkreten Einzelheiten unwichtig geworden sind.«
    »Sie akzeptieren es einfach. Sie werden nicht versuchen, dem Mann die Tür ins Gesicht zu schlagen, wenn es soweit ist. Sie werden nicht zulassen, daß ich mich hinter der Tür verstecke und ihn niederschlage. Sie werden nicht darum bitten, an dem Tag unter Polizeischutz gestellt zu werden.«
    »Natürlich nicht. Was sollte dabei herausspringen?«
    »Es wäre ein Experiment…«
    Er schürzte die Lippen. Meine hartnäckige Rückkehr zu einem Thema, das für ihn absurd war, schien ihn zu ärgern. »Was ich sehe, ist das, was geschehen wird. Die Zeit für Experimente war vor fünfzig Jahren, und die Experimente sind alle fehlgeschlagen. Nein, wir werden nicht eingreifen, Lew. Wir werden gehorsam unsere Rollen spielen, Sie und ich. Das wissen Sie doch.«
     
28
    Unter dem neuen Regime konferierte ich täglich mit Carvajal, manchmal mehrmals am Tag, gewöhnlich telefonisch, und übermittelte ihm die jeweils neuesten politischen Informationen – Strategien, Entwicklungen, Gespräche mit politischen Führern von außerhalb New Yorks, Daten-Projektionen, alles, was auch nur am Rande unser Vorhaben, Paul Quinn ins Weiße Haus zu hieven, berühren konnte. Der Grund dafür, dieses ganze Zeug in Carvajals Kopf zu stopfen, war der Periskop-Effekt: Er konnte

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