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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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komischen Kleider. Regelmäßig ließ ich mir den Kopf rasieren. Ich ertrug das Kitzeln meines Bartes, und nach einer Weile bemerkte ich es nicht mehr. Ich schickte den Bürgermeister zu Mittag- und Abendessen mit allen möglichen Typen, die eines Tages einflußreiche Politiker sein würden. Gott steh mir bei, ich folgte dem Drehbuch.
    Anfang Oktober sagte Carvajal: »Jetzt reichen Sie die Scheidung ein.«
     
29
    Scheidung, sagte Carvajal, an einem frisch-klaren Mittwoch im Oktober, einem Tag mit blauem Himmel und trockenen gelben, früh fallenden Ahornblättern, die in dem scharfen Westwind tanzten, jetzt reichen Sie die Scheidung ein, jetzt leiten Sie das Ende Ihrer Ehe in die Wege. Mittwoch, der sechste Oktober 1999, nur noch sechsundachtzig Tage bis zum Ende des Jahrhunderts, es sei denn, Sie wären einer von den Puristen, die mit logischem, wenn auch nicht mit gefühlsmäßigem Recht darauf bestehen, daß das neue Jahrhundert richtig erst am ersten Januar 2001 beginnt. Wie auch immer, sechsundachtzig Tage bis zum Wechsel der ersten Ziffer. Laßt uns, mit dem Wechsel der ersten Ziffer, hatte Quinn in seiner berühmten Rede gesagt, reinen Tisch machen und aufs neue beginnen, eingedenk der Fehler der Vergangenheit, aber sie nicht wiederholend. War meine Ehe mit Sundara einer der Fehler der Vergangenheit gewesen? Jetzt reichen Sie die Scheidung ein, sagte Carvajal, und er gab mir damit nicht so sehr einen Befehl als vielmehr einen unpersönlichen Bericht über die notwendige Entwicklung der Dinge. Solchermaßen verschlingt die unbarmherzige, unentrinnbare Zukunft die Gegenwart. Für Orville und Wilbur Wright kam Kitty-Hawk-Zeit; für John F. Kennedy kam Lee-Harvey-Oswald-Zeit; für Lew und Sundara Nichols kam nun Scheidungszeit, die wie ein Eisberg aus den bevorstehenden Monaten drohend hervorragte, und warum, warum, zu welchem Zweck und Ende, por que, pourquoi, why? Ich liebte sie immer noch.
    Und doch hatte unsere Ehe den ganzen Sommer lang gesiecht, Gnadentod war jetzt eine vernünftige Verordnung. Was auch immer wir besessen hatten, war verschwunden, ganz und gar ruiniert; sie hatte sich in den Rhythmen und Ritualen Transits verloren, hatte sich völlig ihren geheiligten Absurditäten überantwortet, und ich steckte tief in meinen Träumen von visionären Kräften; obwohl wir eine Wohnung und ein Bett teilten, teilten wir sonst nichts. Nur der allerdünnste Kraftstoff versorgte unsere Beziehung, das blasse Petroleum der Nostalgie; das und der geringfügige Antrieb, der aus erinnerter Leidenschaft kommt.
    Dreimal, glaube ich, haben wir in jenem letzten Sommer Liebe gemacht. Liebe gemacht! Lächerlicher Euphemismus für ficken, fast so schlimm wie der groteskeste von allen, miteinander schlafen. Egal, was Sundara und ich bei diesen drei Vereinigungen des Fleisches machten, Liebe war das Erzeugnis nicht; wir machten Schweiß, wir machten zerknitterte Laken, wir machten keuchenden Atem, wir machten sogar Orgasmen, aber Liebe? Liebe? Die Liebe war da, eingekapselt tief in mir und vielleicht sogar auch in ihr, vor langer Zeit >gemacht<, in Kellern gelagert wie Wein des premier cru, wie kostbares Kapital, das man verschließt; und als unsere Körper in jenen drei klebrigen Sommernächten miteinander rangen, machten wir da nicht Liebe, vielmehr zehrten wir von einem vorhandenen und schrumpfenden Deposit. Vom Nachlaß leben.
    Dreimal in drei Monaten. Vor nicht allzu vielen Monaten hatten wir in jeder beliebigen Fünf-Tage-Spanne einen besseren Durchschnitt erzielt, aber das war, bevor die mysteriöse gläserne Wand sich zwischen uns gesenkt hatte. Die Schuld lag wahrscheinlich bei mir: Ich suchte Sundara jetzt nie, und sie, vielleicht in Ausführung irgendeines Transit-Gebotes, war es zufrieden, nie nach mir zu suchen. Ihr geschmeidiger, warmer Körper hatte in meinen Augen nichts von seiner Schönheit verloren, und ich war auch nicht eifersüchtig auf irgendeinen anderen Liebhaber; denn nicht einmal die Episode mit der Bordell-Lizenz hatte irgendeine Auswirkung auf mein Verlangen nach ihr gehabt, nicht die geringste. Was sie mit anderen tat, selbst das, war immer schon in dem Moment, in dem sie in meinen Armen lag, zu Nichts geworden. Aber jetzt schien es mir, als ob Sex zwischen Sundara und mir irrelevant war, unpassend, ein überholter Austausch in einer entwerteten Währung. Wir hatten einander nichts mehr anzubieten als unsere Körper, und nachdem alle anderen Ebenen der Berührung zwischen uns verschlossen waren,

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