Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
du, ich möchte dich übervorteilen?«
    »Ich denke gar nichts mehr.«
    Sie kam zu mir. Ihre Augen glühten; ihr Körper strahlte eine pulsierende Sinnlichkeit aus. Ich war hilflos vor ihr. Sie hätte alles von mir haben können. Sich vorbeugend, küßte Sundara meine Nasenspitze und sagte kehlig, theatralisch: »Wenn du die Scheidung willst, Liebling, sollst du sie haben. Was du willst. Ich will mich dir nicht in den Weg stellen. Ich will, daß du glücklich bist. Ich liebe dich, weißt du.« Sie lächelte durchtrieben. Oh, diese Transit-Possen! »Was du willst«, sagte sie.
     
33
    Ich mietete mir eine Wohnung in Manhattan, drei möblierte Zimmer in einem alten, einst luxuriösen Hochhaus in der Dreiundsechzigsten Straße nahe der Second Avenue, einer alten, einst luxuriösen Wohngegend, die noch nicht ernsthaft heruntergekommen ist. Das Alter des Gebäudes wurde von einem Sortiment von Sicherheitsanlagen bezeugt, deren ältere aus den Sechzigerjahren, deren jüngere aus den frühen Neunzigern stammten: Alles, was es gab, von Polizeischlössern und versteckten Gucklöchern bis hin zu neuesten Filtern und Geschoßschirmen. Das Mobiliar war schlicht und von zeitlosem Stil, ehrwürdig und funktional, Sofas, Stühle, Bett, Tische, Bücherregale und dergleichen, anonym bis zur Unsichtbarkeit. Auch ich fühlte mich unsichtbar, nachdem ich vollständig eingezogen war und die Packer und der Hausverwalter gegangen waren: Allein stand ich in meinem neuen Wohnzimmer wie ein eben eingetroffener Botschafter von Nirgendwo, der seine Residenz in der Vergessenheit bezieht. Was war dies für ein Ort, und wie war es gekommen, daß ich hier lebte? Wem gehörten diese Stühle, wem diese Fingerabdrücke auf den nackten blauen Wänden?
    Sundara hatte mich einige Bilder und Plastiken mitnehmen lassen, und ich hängte oder stellte sie da und dort auf; in die großzügige Anlage unserer Wohnung auf Staten Island hatten sie sich wunderbar eingefügt, hier aber wirkten sie plump und unnatürlich, wie Pinguine in der Prärie. Hier gab es keine Scheinwerfer, keine ausgeklügelten Arrangements von Sonnensammlern und Lichtwechslern, keine teppichbedeckten Postamente.
    Dennoch empfand ich kein Selbstmitleid darüber, hierher verschlagen worden zu sein, nur Verwirrung, Leere, Entwurzelung. Den ersten Tag verbrachte ich mit Auspacken und Einrichten, stellte die Laren und Penaten auf, oft innehaltend, um über nichts im besonderen nachzudenken. Ich verließ die Wohnung nicht, nicht einmal, um Lebensmittel einzukaufen; statt dessen gab ich an Gristedes Delikatessen um die Ecke telefonisch eine Hundert-Dollar-Bestellung durch, um fürs erste die Speisekammer zu füllen. Das Abendessen war eine einsame und unschmackhafte Angelegenheit aus allerlei synthetischem Batz, den ich geistesabwesend zubereitete und hastig herunterwürgte. Ich schlief allein und schlief, zu meiner Überraschung, ausgezeichnet. Am Morgen rief ich Carvajal an und berichtete ihm, was sich getan hatte.
    Er grunzte seine Zustimmung und sagte dann: »Aus Ihrem Schlafzimmer haben Sie einen Blick auf die Second Avenue?«
    »Ja. Und aus dem Wohnzimmer auf die Dreiundsechzigste Straße. Warum?«
    »Hellblaue Wände?«
    »Ja.«
    »Ein dunkles Sofa?«
    »Ja. Warum möchten Sie das wissen?«
    »Ich kontrolliere nur«, sagte er. »Um mich zu vergewissern, daß Sie die richtige Wohnung gefunden haben.«
    »Sie meinen, die, die Sie gesehen haben?«
    »Stimmt.«
    »Bestand irgendein Zweifel?« fragte ich. »Haben Sie aufgehört, Ihren Visionen zu vertrauen?«
    »Nicht einen Augenblick lang. Aber Sie?«
    »Ich vertraue Ihnen, ich vertraue Ihnen. Welche Farbe haben die Badezimmerkacheln?«
    »Weiß ich nicht«, sagte Carvajal. »Ich habe nicht darauf geachtet. Aber Ihr Eisschrank ist hellbraun.«
    »Okay, genügt schon. Ich bin beeindruckt.«
    »Hoffe ich. Können Sie sich jetzt ein paar Notizen machen?«
    Ich fand einen Zettel. »Schießen Sie los«, sagte ich.
    »Donnerstag, einundzwanzigster Oktober. Quinn wird nächste Woche nach Louisiana fliegen und sich mit Gouverneur Thibodaux treffen. Danach erklärt er öffentlich seine Unterstützung für das Plaquemines-Projekt. Nach seiner Rückkehr feuert er den Referenten für Wohnungswesen, Ricciardi, und gibt Charles Lewisohn den Job. Ricciardi wird zum Leiter der Rennbehörde ernannt. Und dann…«
    Ich schrieb alles auf, schüttelte wie üblich den Kopf, hörte Quinn schimpfen:
    Was soll ich mit Thibodaux? Der Plaquemines-Damm geht mich doch

Weitere Kostenlose Bücher