Der Seher
einen Dreck an. Ich dachte, Dammbauen wär’ sowieso überholt. Und Ricciardi hat annehmbare Arbeit geleistet, wenn man seine beschränkte Intelligenz bedenkt; werden die Italiener nicht beleidigt sein, wenn ich ihn auf diese Weise die Treppe hinaufwerfe? Et cetera, et cetera.
Immer häufiger hatte ich Quinn in letzter Zeit bizarre Stratageme vorgelegt, die unverständlich und unerklärbar waren; denn Carvajals Pipeline transportierte nun frei und üppig Material aus der unmittelbaren Zukunft; daraus ergaben sich viele Ratschläge, wie Quinn am besten zu manövrieren und manipulieren habe; Quinn ließ sich auf alles ein, was ich vorschlug, aber manchmal sträubte er sich lange. Einer dieser Tage würde er eine meiner Ideen rundheraus ablehnen und sich nicht mehr umstimmen lassen; was würde dann aus Carvajals unveränderlicher Zukunft werden?
Zur gewohnten Zeit war ich am nächsten Tag im Rathaus – ein etwas komisches Gefühl, mit dem Taxi über die Second Avenue zur Stadtmitte zu gondeln, anstatt mit dem Hubschrauber von Staten Island herüberzukommen –, und um halb zehn hatte ich meine neuesten Memos für den Bürgermeister fertig. Ich schickte sie ihm. Kurz nach zehn piepste meine Sprechanlage, und eine Stimme sagte, der Zweite Bürgermeister wünsche mich zu sprechen.
Es würde Ärger geben. Ich fühlte es, als ich den Gang hinunterging, und es war über Mardikians Gesicht geschrieben, als ich sein Büro betrat.
Er sah aus, als fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut – gereizt, angespannt, nicht im Gleichgewicht. Seine Augen waren zu hell, und er nagte an den Lippen. Meine Memos waren auf seinem Schreibtisch ausgebreitet. Wo war der flotte, glatte, lackglänzende Mardikian? Verschwunden. Verschwunden. Und an seiner Stelle saß dieser nervöse, aus der Fassung gebrachte Mann vor mir.
Kaum zu mir aufblickend, sagte er: »Lew, was zum Teufel soll dieser Mist mit Ricciardi?«
»Es ist ratsam, ihn aus seinem gegenwärtigen Amt zu entfernen.«
»Ich weiß, daß es ratsam ist. Du hast es uns gerade geraten. Warum ist es ratsam?«
»Die langfristige Dynamik verlangt es«, versuchte ich zu bluffen. »Ich kann dir keine überzeugenden und konkreten Gründe geben, aber ich fühlte, daß es nicht klug ist, auf dem Posten einen Mann zu haben, der der italienisch-amerikanischen Gemeinde hier so nahe steht, besonders den Grundbesitzerinteressen innerhalb dieser Gemeinde. Lewisohn ist eine gute, neutrale Figur, die keine Reibereien erzeugen und für uns ungefährlich sein wird, wenn die Bürgermeisterwahlen heranrücken…«
»Hör auf, Lew.«
»Was?«
»Hör auf. Du sagst gar nichts. Du redest nur einen Haufen Blech. Quinn meint, Ricciardi habe anständige Arbeit geleistet; er regt sich auf über dein Memo, und wenn ich dich um unterstützende Daten bitte, zuckst du die Schultern und sagst, es wäre eine Ahnung. Und außerdem…«
»Meine Ahnungen sind immer…«
»Moment«, sagte Mardikian. »Dieses Louisiana-Ding. Jesusmariaundjosef! Thibodaux ist die Antithese zu allem, wofür Quinn steht. Warum zum Teufel sollte der Bürgermeister den weiten Weg nach Baton Rouge machen, einen vorsintflutlichen Frömmler umarmen und ein unnützes, umstrittenes und ökologisch riskantes Damm-Projekt unterstützen? Dabei hat Quinn alles zu verlieren und nichts Erkennbares zu gewinnen, es sei denn, du meinst, das wird ihm 2004 die Stimmen der Rotnacken verschaffen, und die wären entscheidend für seine Aussichten; Gott steh uns bei, wenn sie das sind. Nun?«
»Ich kann es nicht erklären, Haig.«
»Du kannst es nicht erklären? Du kannst es nicht erklären? Du gibst dem Bürgermeister eine derartig explizite Anweisung, wie auch die Sache mit Ricciardi, etwas, das offensichtlich einer komplizierten langen Überlegung entsprungen ist, und du weißt nicht, warum? Wenn du nicht weißt, warum, wie sollen wir es wissen? Wo ist die rationale Grundlage für unsere Handlungen? Soll der Bürgermeister wie ein Schlafwandler durch die Gegend laufen, wie irgendein Halbaffe, der tut, was du sagst, und nicht weiß, warum? Komm, Lew! Ahnung ist Ahnung, aber wir haben dich angestellt, damit du rationale und begreifbare Projektionen machst. Wir wollen keinen Wahrsager.«
Nach einer langen, ungemütlichen Pause sagte ich ruhig: »Haig, ich habe in letzter Zeit allerhand Schlimmes durchgemacht, und ich habe nicht mehr sehr viel Energie übrig. Ich möchte jetzt keine schwere Auseinandersetzung mit dir. Ich bitte dich nur, mir zu glauben,
Weitere Kostenlose Bücher