Der Seher
verrückt, aber ich tu’s. Nur dieses eine Mal. Du verziehst dich nach Hawaii oder irgendwohin und sonnst dich ein paar Wochen. Und ich geh’ zu Quinn und überrede ihn, Ricciardi zu feuern und nach Louisiana zu fahren und so weiter. Ich halte es für einen verrückten Rat, aber ich setze auf deine bisherigen Leistungen.« Er kam um den Schreibtisch herum zu mir und, in all seiner Größe über mir aufragend, drückte er mich plötzlich und unbeholfen an sich. »Du machst mir Sorgen, Kleiner«, murmelte er.
34
Ich machte Urlaub. Nicht an den Stranden von Hawaii – zu überfüllt, zu hektisch, zu weit weg – und nicht in der Jagdhütte in Kanada, denn dort würde schon der erste Schnee fallen; nein, im goldenen Kalifornien, Carlos Socorros Kalifornien, an der glorreichen Küste von Big Sur, wo bequemerweise ein anderer Freund von Lombroso eine einsame Holzhütte auf einem Felsen hoch über dem Meer besaß. Zehn ruhelose Tage lang lebte ich in ländlicher Abgeschiedenheit: die dichtbewaldeten Hänge der Santa-Lucia-Berge, dunkel, geheimnisvoll, farnverwuchert, hinter mir und die breite Brust des Pazifiks vor mir. Es war, so hatte man mir zugesichert, die schönste Zeit des Jahres in Big Sur, die idyllischen Wochen, die die Nebel des Sommers vom Regen des Winters scheiden, und wirklich war es so: warme, sonnenbeschienene Tage, kühle, sternklare Nächte und ein erstaunlicher, purpur- und goldfarbener Sonnenuntergang allabendlich. Ich wanderte in den stillen Rotholzwäldern, ich schwamm in kalten, ungestümen Bergflüssen, ich kletterte über dicht mit Kaskaden glattblättriger Sukkulenten bewachsene Felsen zum Strand und der tosenden Brandung hinunter. Ich beobachtete Kormorane und Möwen bei ihren Mahlzeiten und, eines Morgens, einen drolligen Seehund, der fünfzig Meter vor der Küste auf dem Rücken dahinschwamm und an einem Krebs knabberte. Ich las keine Zeitungen. Ich telefonierte nicht. Ich schrieb keine Memoranda.
Aber Frieden fand ich nicht. Zuviel dachte ich an Sundara, fragte mich in einer ziellosen, betäubten Weise, warum ich sie verloren hatte; ich zermürbte mich mit Sorgen über öde politische Angelegenheiten, die sich jeder vernünftige Mensch in solch großartiger Umgebung aus dem Kopf geschlagen hätte; ich ersann komplexe Katastrophen, die eintreten könnten, wenn Quinn nicht nach Louisiana ginge. Im Paradies lebend, tat ich alles, zerrissen, angespannt und ruhelos zu sein.
Aber langsam und allmählich erlaubte ich mir doch, mich erfrischt zu fühlen. Langsam drang der Zauber der üppigen Küste, der wie durch ein Wunder in einem Jahrhundert erhalten geblieben war, in dem fast alles andere verdorben wurde, in meine stumpfe und bedrückte Seele.
Möglicherweise sah ich zum ersten Mal während meines Aufenthalts in Big Sur.
Sicher bin ich mir nicht. Monate enger Beziehung zu Carvajal hatten noch keine greifbaren Ergebnisse gezeitigt. Die Zukunft sandte mir keine Botschaften, die ich lesen konnte. Ich kannte jetzt die Tricks, mit denen Carvajal den Zustand des Sehens herbeiführte, ich kannte die Anzeichen einer bevorstehenden Vision, ich war mir sicher, daß ich in Bälde sehen würde, aber ich hatte keine eindeutige visionäre Erfahrung gehabt; und je mehr ich versuchte, eine zu erlangen, desto ferner erschien mir natürlich mein Ziel. Aber gegen Ende meiner Tage in Big Sur gab es einen merkwürdigen Moment.
Ich war am Strand gewesen, und nun, am späten Nachmittag, stieg ich rasch den steilen Pfad zur Hütte hinan, schnell ermüdend, schwer atmend, den berauschenden Schwindel genießend, der mich ergriff, da ich Herz und Lungen bewußt bis an die Grenzen ihrer Kraft beanspruchte. An einer scharfen Biegung des Weges hielt ich kurz inne und drehte mich um, um zurück und hinab zu blicken; der blendende Glanz der niedergehenden Sonne, der auf der Tafel des Meeres vibrierte, schlug auf mich ein und betäubte mich, so daß ich schwankte und zitterte und mich an einen Busch klammern mußte, um nicht zu stürzen. Und in diesem Augenblick schien es mir – schien: Es war nur eine illusorische Empfindung, ein kurzes Aufflackern des Unbewußten –, als starre ich durch das goldene Feuer des Sonnenlichts in eine Zeit, die noch nicht gekommen war, als sähe ich eine riesige, rechteckige, grüne Fahne, die über einem Betonplatz flatterte, und aus der Mitte der Fahne sah mich das Gesicht Paul Quinns an, ein machtvolles, ein beherrschendes Gesicht, und der Platz war voller Menschen. Tausende
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