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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Dies sind die Schamanen und Zauberer. Dies sind die Sänger, dies sind die Dichter, dies die Erzeuger der Bildnisse. Dies sind die neuen Riten. Dies sind die Früchte des Kriegs. Seht: Liebende, Mörder, Träumer, Seher! Seht: Generäle, Priester, Entdecker, Gesetzgeber! Kontinente sind da, die noch niemand gefunden hat. Äpfel sind da, die noch niemand gekostet hat. Seht! Wahnsinnige! Kurtisanen! Helden! Opfer! Ich sehe die Pläne. Ich sehe die Fehler. Ich sehe die erhabenen Leistungen, und sie treiben Tränen des Stolzes in meine Augen. Hier ist die Tochter der Tochter Eurer Tochter. Hier ist der Sohn Eurer Söhne ohne Zahl. Dies sind Nationen, noch unbekannt; dies sind Nationen, eben wiedergeboren. Was ist das für eine Sprache, nur Klick und Gezisch? Was ist das für eine Musik, nur Stoß und Geknurr? Rom wird wieder fallen. Babylon wird wiederkommen und auf der Welt liegen wie ein großer grauer Krake. Wie wundersam die Zeiten, die da kommen werden! Alles, was Sie sich nur vorstellen können, wird eintreten, und mehr, viel mehr, und ich sehe es alles.
    Sind das die Dinge, die ich sehe?
    Sind alle Türen mir offen? Werden alle Mauern zu Fenstern?
    Blicke ich auf den ermordeten Prinzen und den neugeborenen Erlöser, auf die Feuer des zerstörten Reiches, die am Horizont brennen, auf das Grab des Herrn der Herren, auf die Reisenden festen Blicks, die sich hinauswagen auf das goldene Meer, das den Bauch der veränderten Welt bedeckt? Überschaue ich die Millionen Millionen Morgen der Rasse und schlucke sie alle hinunter und mache das Fleisch der Zukunft zu meinem eigenen? Die einstürzenden Himmel? Die kollidierenden Sterne? Was sind das für unvertraute Konstellationen, die sich formen und umformen, während ich zusehe? Wessen sind diese maskierten Gesichter? Wofür steht dieses Steinbildnis, so hoch wie drei Berge? Wann werden die Klippen, die die See ummauern, zu rotem Sand zermahlen sein? Wann wird das Polareis gleich unerbittlicher Nacht auf diese Felder roter Blumen niedersteigen? Wem gehören diese Bruchstücke? Oh, was sehe ich, was sehe ich?
    Alle Zeit, allen Raum.
    Nein. Natürlich wird es nicht so sein. Alles, was ich sehen werde, ist, was ich mir selbst aus meinen eigenen paar schäbigen Morgen zusenden kann. Kurze bläßliche Botschaften, wie die undeutlichen Übertragungen der Blechdosentelefone, die wir als Jungen bastelten: kein epischer Glanz, keine barocke Apokalypse. Dennoch, selbst diese verwischten und gedämpften Laute sind mehr, als ich erhoffen konnte, solange ich noch schlief wie Sie, solange ich eine jener blind-stolpernden Gestalten war, die unbeholfen und schleppend durch das Schattenreich dieser Welt torkeln.
     
32
    Mardikian verschaffte mir einen Anwalt: Jason Komurjian – Armenier natürlich, einer von Mardikians Teilhabern, der Scheidungsspezialist, ein Schrank von einem Mann mit merkwürdig traurigen kleinen Augen, die eng beisammen standen im massiven, schwärzlichen Brocken seines Gesichtes. Er war ein College-Klassenkamerad von Haig und mußte daher ungefähr meines Alters sein, wirkte aber älter, viel alter, alterslos, ein Patriarch, der die Traumen Tausender zerstrittener Ehegefährten auf sich genommen hatte. Sein Körper war jugendlich, seine Aura steinalt.
    Wir trafen uns in seinem Büro im fünfundneunzigsten Stock des Martin-Luther-King-Gebäudes, einem dunklen, duftgeschwängerten Büro, das in Pomp und Anlage fast mit Bob Lombrosos rivalisieren konnte: Der Raum war so reich und schwer geschmückt wie die kaiserliche Kapelle einer Byzantinischen Kathedrale. »Scheidung«, sagte Komurjian träumerisch, »Sie wollen sich scheiden lassen, ja, einen Schlußstrich ziehen, ja, endgültig auseinandergehen«, und er ließ den Begriff in den weiten Kuppelarenen seines Bewußtseins steigen und kreisen, als handle es sich um eine erlesene theologische Erörterung, als sprächen wir über die Wesensgleichheit des Vaters und des Sohnes oder die Doktrin der apostolischen Nachfolge. »Ja, das sollte möglich sein. Sie leben jetzt getrennt?«
    »Noch nicht.«
    Das schien ihn nicht zu freuen. Seine schweren Lippen sackten herunter, sein fleischiges Gesicht nahm eine dunklere Färbung an. »Das muß geschehen«, sagte er. »Fortgeführte Wohngemeinschaft gefährdet die Glaubwürdigkeit jeglicher Klage auf Beendigung des ehelichen Zustandes. Selbst heute noch, selbst heute. Richten Sie getrennte Wohnungen ein. Getrennte Konten. Demonstrieren Sie Ihr Ziel, mein Freund. Eh?« Er griff nach

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