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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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einem mit Rubinen und Smaragden besetzten Kruzifix auf seinem Tisch und spielte damit, ließ dicke Finger über die glatte, wohlabgegriffene Oberfläche gleiten, und für eine Weile war er in seinen eigenen Grübeleien versunken. Ich fantasierte die Töne einer unsichtbaren Orgel, ich sah eine Prozession feierlich gekleideter, bärtiger Priester durch das Chorgestühl seines Geistes ziehen. Fast konnte ich hören, wie er mit sich selbst Lateinisch sprach, nicht Kirchen-, sondern Anwaltslatein, eine Litanei von Plattheiten. Magna est vis consuetudinis, falsus in uno, falsus in omnibus, eadem sed aliter, res ipsa loquiter. Huius huius huius, hinc haec hoc. Er blickte auf, durchbohrte mich mit einem unerwartet konzentrierten Blick. »Gründe?«
    »Nein, nicht die Art von Scheidung. Wir wollen uns einfach nur trennen, unsere verschiedenen Wege gehen, ein einfacher Abschluß.«
    »Selbstverständlich haben Sie das mit Mrs. Nichols besprochen und ein vorläufiges Einvernehmen erzielt?«
    Ich wurde rot. »Äh – noch nicht«, sagte ich unsicher.
    Komurjian mißbilligte deutlich. »Sie verstehen, irgendwann müssen Sie das Thema ansprechen. Wahrscheinlich wird sie ruhig reagieren. Dann werden ihr Anwalt und ich uns treffen, und die Sache wird erledigt.« Er nahm einen Notizblock zur Hand.
    »Was die Aufteilung des Besitzes angeht…«
    »Sie kann haben, was sie will.«
    »Was sie will?« Er klang überrascht.
    »Ich möchte mit ihr über nichts streiten.«
    Komurjian breitete seine Hände vor mir auf dem Tisch aus. Er trug noch mehr Ringe als selbst Lombroso. Diese Levantiner, diese luxuriösen Levantiner! »Und wenn sie alles haben will?« fragte er. »Alles, was Ihnen gemeinsam gehört? Sie geben es ihr kampflos?«
    »Das wird sie nicht tun.«
    »Hängt sie nicht dem Transit-Glauben an?«
    Überrascht fragte ich: »Woher wissen Sie das?«
    »Haig und ich, das müssen Sie verstehen, haben den Fall diskutiert.«
    »Aha.«
    »Und Transiter sind unberechenbar.«
    Mir gelang ein ersticktes Lachen. »Allerdings. Sehr.«
    »Aus purer Laune könnte sie alles haben wollen«, sagte Komurjian.
    »Oder aus purer Laune nichts.«
    »Oder nichts, stimmt. Man kann nie wissen. Ist Ihre Anweisung die, daß ich jede Position, die sie einnimmt, akzeptieren soll?«
    »Wir wollen abwarten«, sagte ich. »Grundsätzlich ist sie eine vernünftige Frau, meine ich. Mein Gefühl sagt mir, daß sie keine ungewöhnlichen Forderungen erheben wird.«
    »Und Einkommensregelung?« fragte der Anwalt. »Sie wird keine fortdauernden Zahlungen von Ihnen wollen? Sie haben einen Zweiergruppen-Standardvertrag, ja?«
    »Ja. Mit Ende der Ehe erlischt jede finanzielle Verantwortung.«
    Komurjian fing an zu summen, sehr leise, fast unhörbar für mich. Fast. Was für eine Routine das alles für ihn sein mußte, diese Aufhebung sakramentaler Bindungen! »Dann sollte es keine Probleme geben, ja? Aber Sie müssen Ihre Absichten Ihrer Frau verkünden, Mr. Nichols, bevor wir weitergehen.«
    Was ich tat. Sundara war jetzt so mit ihren vielfachen Transit-Aktivitäten beschäftigt – ihren Prozeß-Sitzungen, Unbeständigkeits-Kreisen, ihren Egoverfallübungen, ihren missionarischen Pflichten und so weiter –, daß fast eine Woche verging, bevor ich zu Hause ein ruhiges Wort mir ihr wechseln konnte. Inzwischen hatte ich die ganze Sache tausendmal im Geist geprobt, so daß die Sätze abgenutzt waren wie ausgeleierte Schallplattenrillen; wenn es je eine Situation gab, in der ich dem Drehbuch folgte, dann würde diese es sein. Aber würde sie mir die richtigen Stichwörter geben?
    Fast entschuldigend, als wäre es ein Eindringen in ihre Privatsphäre, ein Gespräch mit ihr zu erbitten, erklärte ich eines Abends, ich wolle etwas Wichtiges mit ihr besprechen, und dann sagte ich, was ich mich so oft hatte sagen hören: daß ich die Scheidung beantragen werde. Indem ich es sagte, bekam ich eine Ahnung davon, was sehen für Carvajal sein mußte; denn ich hatte diese Szene so oft in der Einbildung durchlebt, daß sie mir schon wie ein Ereignis der Vergangenheit vorkam.
    Sundara betrachtete mich nachdenklich, sagte nichts, zeigte weder Überraschung noch Ärger, noch Feindseligkeit, weder Begeisterung noch Bestürzung oder Verzweiflung.
    Ihr Schweigen verwirrte mich.
    Schließlich sagte ich: »Ich habe mir Jason Komurjian als Anwalt genommen. Einer von Mardikians Partnern. Er wird sich mit deinem Anwalt zusammensetzen, sobald du einen hast, und sie werden alles erledigen. Ich

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