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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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aneinandergedrängt, Hunderttausende, die die Arme erhoben hatten, brüllten, die Fahne grüßten, ein Mob, ein gewaltiges Kollektivwesen, verloren in Hysterie, in Anbetung Quinns. Es hätte ebenso gut 1934 sein können, Nürnberg, ein anderes Gesicht auf der Fahne, unheimliche, stechende Augen und ein kleiner schwarzer Schnurrbart, und die Menschen hätten ebenso gut Sieg! Heil! Sieg! Heil! rufen können.
    Ich keuchte und fiel auf die Knie, von Schwindel, Furcht, Verwunderung, Schrecken befallen, und ich stöhnte und schlug die Hände vors Gesicht, und dann war die Vision verschwunden, dann blies die Nachmittagsbrise Fahne und Mob aus meinem zuckenden Hirn, und nichts lag mehr vor mir als der endlose Pazifik.
    Hatte ich gesehen? Hatte sich der Vorhang der Zeit für mich geöffnet? War Quinn der kommende Führer, der Duce von morgen? Oder hatte sich mein müder Geist mit meinem müden Körper verschworen, einen flüchtigen paranoiden Blitz hervorzuschleudern, verrückte Einbildungen und nichts weiter? Ich wußte es nicht. Ich weiß es immer noch nicht. Ich habe meine Theorie, und meine Theorie besagt, daß ich gesehen habe, aber nie habe ich jene Fahne wieder gesehen, nie wieder habe ich das furchtbar hallende Gebrüll jenes ekstatischen Mobs gehört, und bis die Fahne nicht tatsächlich über uns weht, werde ich die Wahrheit nicht wissen.
    Schließlich beschloß ich, daß ich mich lange genug in die Walder zurückgezogen hatte, um mein Ansehen im Rathaus als stabiler und vertrauenswürdiger Berater wiederherzustellen, und fuhr nach Monterey, machte mit dem Hubschrauber den Sprung nach San Francisco und flog heim nach New York, in meine staubige, vernachlässigte Wohnung in der Dreiundzwanzigsten Straße. Nicht viel hatte sich geändert. Die Tage waren kürzer, es war ja schon November, und der Dunst des Herbstes war von den ersten scharfen Windstößen des heraneilenden Winters gewichen, der von Fluß zu Fluß die Stadt in die Zange nahm. Der Bürgermeister war, mirabile dictu, in Louisiana gewesen, zum Mißvergnügen der Leitartikelschreiber der New York Times, war für den Bau des dubiosen Plaquemines-Damm eingetreten, war fotografiert worden, wie er Gouverneur Thibodaux umarmte: Quinn sah säuerlich entschlossen aus, lächelnd wie vielleicht ein Mann lächelt, der engagiert wurde, einen Kaktus zu herzen.
    Bald fuhr ich hinaus nach Brookly, um Carvajal zu besuchen.
    Einen Monat lang hatte ich Carvajal nicht gesehen, aber er schien um sehr viel mehr als einen Monat gealtert: fahl, eingesunken, die Augen trüb und wässerig, ein Zittern in seinen Händen. Seit unserem ersten Treffen im März, in Bob Lombrosos Büro, hatte er nicht mehr so verbraucht und hinfällig gewirkt; all die Kraft, die ihm im Frühling und Sommer zugeflossen war, hatte ihn nun verlassen, all die plötzliche Vitalität, die er vielleicht aus der Beziehung zu mir geschöpft hatte. Nicht vielleicht: bestimmt. Denn Minute für Minute kehrte, während wir saßen und redeten, mehr Farbe in ihn zurück, ein Leuchten von Energie trat wieder in seine Züge.
    Ich berichtete ihm, was auf dem Küstenpfad von Big Sur geschehen war. Lächelte er? »Möglicherweise ein Anfang«, sagte er leise. »Irgendwann muß es losgehen. Warum nicht dort?«
    »Aber wenn ich gesehen habe, was bedeutet die Vision? Quinn mit Fahnen? Quinn, der einen Mob hinreißt?«
    »Wie soll ich das wissen?« fragte Carvajal.
    »Sie haben nie etwas Ähnliches gesehen?«
    »Quinns große Zeit erlebe ich nicht mehr«, rief er mir ins Gedächtnis. Seine Augen tadelten mich sanft. Ja: Dieser Mann hatte weniger als sechs Monate zu leben und wußte es, bis hin zur Stunde, zur Minute. Er sagte: »Vielleicht können Sie sich erinnern, wie alt Quinn in Ihrer Vision war. Die Haarfarbe, die Falten im Gesicht…«
    Ich versuchte, mich zu erinnern. Quinn war neununddreißig Jahre alt. Wie alt war der Mann, dessen Gesicht jene große Fahne bedeckt hatte? Ich hatte ihn sofort als Quinn erkannt, also konnten die Veränderungen nicht sehr groß gewesen sein. War das Gesicht eckiger, die Kieferpartie wuchtiger? Ergraute das blonde Haar an den Schläfen? Hatte sein eisernes Lächeln tiefere Linien in sein Gesicht geschnitten? Ich konnte es nicht sagen. Ich hatte nicht darauf geachtet. Vielleicht nur eine Einbildung. Eine aus Müdigkeit geborene Halluzination. Ich bat Carvajal um Entschuldigung und versprach, das nächste Mal besser aufzupassen, wenn mir ein nächstes Mal vergönnt sein sollte. Er

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