Der Seitensprung
die vorübergehende Ruhe reichte aus, damit ihr auffiel, wie nervös sie war. Sie hatten seit London nicht mehr miteinander geschlafen, und das war fast zehn Monate her. Eigentlich hatte sie nie darüber nachgedacht. Keiner von ihnen hatte die Initiative ergriffen, und somit war auch keiner von ihnen beiden abgewiesen worden. Sie hatten wohl ganz einfach keine Lust gehabt, mehr steckte nicht dahinter. Und außerdem schlief ja auch immer Axel zwischen ihnen.
Sie fuhr hinauf und parkte in der gepflasterten Garageneinfahrt. Axel sprang aus dem Auto und rannte das kurze Stück zur Veranda.
Sie betrachtete ihr Elternhaus durch die Fensterscheibe. Groß und behütet lag das gelbe Haus aus der Jahrhundertwende mit seinen weißen Schnitzereien da, umgeben von knotigen, gut beschnittenen Apfelbäumen. In ein paar Monaten würden sie von weißen Blüten übersät sein.
In ein paar Monaten.
Dann würde alles wieder so sein wie immer.
Sie brauchte nur noch ein bisschen weiterzukämpfen.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie bei der Werkstatt anrufen und einen Termin für die Winterreifen bestellen musste.
Die Tür öffnete sich, und Axel verschwand im Haus. Eva stieg aus dem Auto, nahm Axels Tasche vom Rücksitz und ging auf den Eingang zu.
Ihre Mutter trat auf die Veranda heraus.
»Hallo. Hast du Zeit für ein Tässchen Kaffee?«
»Nein, ich muss sofort wieder los. Danke, dass ihr so kurzfristig einspringen konntet.«
Sie stellte die Tasche in der Garderobe ab und umarmte ihre Mutter kurz.
»Die Zahnbürste ist im äußeren Fach.«
»Ist was passiert?«
»Ja. Henrik hat einen neuen Kunden, und das wollten wir ein bisschen feiern.«
»Ach, wie schön! Was ist das für ein Kunde?«
»Es geht um eine Artikelserie für eine große Zeitung, ich weiß nicht genau. Axel! Ich fahre jetzt.«
Sie wandte sich wieder ihrer Mutter zu, wich aber deren Blick aus.
»Morgen früh hole ich ihn ab. Wir müssen spätestens um halb acht los, wenn wir es schaffen wollen.«
Axel tauchte im Türrahmen auf und kurz darauf ihr Vater.
»Hallo, mein Herz. Du willst doch nicht schon wieder gehen?«
»Doch. Sonst schaffe ich es nicht.«
Diesmal fügte ihre Mutter die Lüge für sie ein: »Henrik hat einen hübschen neuen Auftrag bekommen, den die beiden zusammen feiern wollen.«
»Da schau an. Dann grüß ihn mal und gratuliere ihm von mir. Und bei dir, wie ist es mit der Unternehmensfusion gelaufen, die euch solche Probleme gemacht hat?«
»Doch, das hat geklappt. Zum Schluss haben wir es durchgekriegt.«
Er stand schweigend da und lächelte. Dann streckte er die Hand aus und legte sie Axel auf den Kopf.
»Du musst wissen, Axel, dass du eine tüchtige Mama hast. Wenn du groß bist, wird sie bestimmt genauso stolz auf dich sein, wie wir immer auf sie sein konnten.«
Plötzlich hätte sie am liebsten weinen mögen. In seinen Arm kriechen und wieder klein sein. Nicht fünfunddreißig und Managementberaterin und eine Mutter, die die Verantwortung hatte, ihre Familie zu retten. Sie waren immer da gewesen. Das Fundament. Verlässlich und selbstverständlich hatten sie stets an sie geglaubt, sie unterstützt, hatten ihr den Glauben an ihr eigenes Können geschenkt. Dass nichts unmöglich war.
Diesmal gab es nichts, was sie tun konnten.
Diesmal stand sie vollkommen allein da.
Wie sollte sie ihnen jemals gestehen, dass Henrik vielleicht nicht mehr mit ihrer Tochter leben wollte. Mit ihr, auf die sie so stolz waren, die so tüchtig und stark und erfolgreich war.
Sie hockte sich neben Axel und zog ihn an sich, um ihre Schwäche zu überspielen.
»Ich hole dich morgen früh ab. Hab viel Spaß heute Abend.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln, ging die Stufen hinunter und weiter zum Auto. Durch die Fensterscheibe sah sie, dass sie auf der Veranda stehen blieben und ihr nachwinkten.
Zusammen.
Papas Arm um Mamas Schultern. Vierzig Jahre, und immer noch standen sie dort, Seite an Seite, zufrieden mit ihrem Leben und so dankbar und stolz auf ihre einzige Tochter.
Genau so wollte sie auch einmal dastehen.
So ein Elternhaus wollte sie auch für Axel erschaffen. Die Sicherheit. Ein vollkommenes Vertrauen, dass sie immer da sein würde, egal, was passierte.
Die Familie.
Die Unerschütterliche.
Auf die man sich verlassen konnte, wenn alles andere den Bach hinunterging. Der gleiche Vorteil, mit dem sie selbst aufgewachsen war. Mama und Papa, immer da, falls sie sie brauchte. Immer bereit einzuspringen. Und je älter sie wurde, desto weniger
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