Der Seitensprung
länger wohnst.
Yvonne Palmgren veränderte wieder ihre Sitzhaltung. Einige Bögen glitten aus der Mappe, und sie fing sie kurz, bevor sie auf den Boden fielen, auf.
Er senkte den Blick und setzte sich wieder zu Anna.
»Warum haben Sie keinen Kontakt zu Ihren Eltern?«
»Weil ich keine Lust habe.«
»Fühlen Sie nie eine Leere?«
»Nein.«
Sie räusperte sich und klappte den Ordner zu.
»Ich glaube, für den Moment lassen wir es dabei bewenden, aber ich würde unser Gespräch gerne schon am Nachmittag fortsetzen.«
Er zuckte die Achseln. Es ärgerte ihn, dass er tun musste, was sie sagten. Dass er sie nicht einfach alle zum Teufel scheren konnte.
»Sagen wir um zwei?«
Sie stand auf, trat zum Bett und sah zuerst Anna und dann ihn an, bevor sie zur Tür ging.
»Dann sehen wir uns später. Bis dann.«
Er gab keine Antwort.
Er sah, wie die Tür sich hinter ihr schloss, nahm Annas Hand, legte sie auf seinen Schritt und schloss die Augen.
NOCH NIE IN ihrem ganzen Leben hatte sie sich so einsam gefühlt.
Er hatte auf dem Sofa geschlafen. Hatte sein Kissen und seine Decke geholt und sie, ohne ein Wort zu sagen, mit all den unbeantworteten Fragen allein gelassen, die sie nicht zu stellen wagte. Seine letzten Worte am Küchentisch hatten sie stumm gemacht.
Die Angst wie ein Krampf im Magen.
Warum war er so wütend? Woher kam sein Zorn? Was konnte sie getan haben, womit hatte sie möglicherweise verdient, so behandelt zu werden?
Allein im Doppelbett bereute sie, dass sie Axel zu den Großeltern gebracht hatte. Sie hätte alles dafür gegeben, ihn jetzt neben sich zu haben, seine Atemzüge zu hören, die Hand ausstrecken zu können und seinen warmen Schlafanzugrücken zu spüren.
Gegen vier hielt sie es nicht länger aus. Mit rot angeschwollenem Gesicht und brennenden Augen zog sie sich ihren Morgenmantel über und ging hinaus zu ihm. Draußen war es noch immer dunkel, aber im schwachen Mondlicht konnte sie erkennen, dass er mit den Armen unterm Kopf auf dem Rücken lag. Die Knie leicht gebeugt, das Sofa war zu kurz, als dass er sich ganz hätte ausstrecken können. Eine kurze Überlegung, warum er sich nicht in Axels Bett gelegt hatte. Zwar ein Kinderbett, aber immerhin besser als das Sofa.
Sie setzte sich auf einen Sessel, ganz vorne an die Kante.
»Schläfst du?«
Er antwortete nicht.
Sie zog ihren Morgenmantel enger zusammen und bibberte. Die Sprossenfenster in diesem Zimmer brauchten neuen Kitt. Die Heizkörper konnten die Wärme nicht halten, wenn der größte Teil davon sofort durch die undichten Ritzen entschwand. Es würde eine Zeit raubende Arbeit sein, acht kleine Scheiben in jedem Fenster. Vielleicht konnten sie jemanden damit beauftragen, um keine Zeit von ihren dringend benötigten Urlaubstagen opfern zu müssen. Aber vielleicht spielte das sowieso keine Rolle mehr.
Sie schluckte.
»Henrik?«
Kein Laut.
»Henrik, bitte, können wir nicht ein bisschen reden? Kannst du mir nicht einfach erklären, was hier vor sich geht?«
Keine Bewegung.
»Kannst du mir wenigstens sagen, warum du so wütend bist? Was ich dir getan habe?«
Er drehte sich auf die Seite und zog die Decke höher. Es musste ihrer Stimme anzumerken sein, wie traurig sie gewesen, wie traurig sie war , aber sie musste einsehen, dass er ihr nicht antworten würde, obwohl er sie gehört hatte. Er wollte sie und ihre Fragen zu Tode schweigen, als hätte sie sie nie gestellt. Sie lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und versuchte die Laute der Verzweiflung zu ersticken, die wie ein Brüllen in ihrer Kehle steckten und verlangten, herausgelassen zu werden. Ein bedrohtes Tier, das von all seinen Instinkten zum Kampf alarmiert wurde, aber nicht wusste, wogegen es sich verteidigen sollte. Eine ganze Weile saß sie so da, unfähig, sich zu erheben, doch schließlich schaffte sie es, ihre Beine zu überreden, sie zurück zu dem leeren Ehebett zu tragen.
Sie hatte sich gerade wieder hingelegt, als sie ihn zur Toilette gehen hörte.
Er ließ sie allein.
Erst nach fünf Uhr schlief sie ein. Gegen sieben wurde sie von der ins Schloss fallenden Haustür geweckt. Sie nahm an, dass er sich auf den Weg machte, um Axel abzuholen und in den Kindergarten zu bringen.
Sie blieb liegen und starrte auf den Sekundenzeiger ihrer Armbanduhr, hatte nicht die Kraft, sich zu rühren. Der Zeiger führte sie Schritt für Schritt weiter weg von allem, woran sie glaubte. Wie sollte sie das hier in Ordnung bringen?
Das plötzliche Klingeln des
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