Der Seitensprung
brauchte sie sie, gerade weil sie wusste, dass sie die ganze Zeit da waren.
Für den Notfall.
Ihr Vertrauen in sie, dass sie zurechtkommen, dass sie es schaffen würde. Ihr unerschütterlicher Glaube an ihre Fähigkeiten, egal, was sie sich vornahm.
Was stimmte mit ihrer eigenen Generation nicht? Warum waren sie nie zufrieden? Warum musste alles und jeder ständig gemessen, verglichen und bewertet werden? Was war das für eine ungelöste Rastlosigkeit, die sie immer weiter trieb, voran, zum nächsten Ziel? Diese Unfähigkeit, innezuhalten und sich über die bereits erreichten Ziele zu freuen, eine ruhelose Angst, es könnte ihnen etwas entgehen, sie hätten etwas verpasst, das vielleicht ein kleines bisschen besser gewesen wäre, sie ein klein wenig glücklicher hätte machen können. So viele Wahlmöglichkeiten, wie sollten sie das alles schaffen?
Die ältere Generation hatte dafür gekämpft, ihre Träume zu verwirklichen: Ausbildung, ein Zuhause, Kinder, und dann war das Ziel erreicht. Weder sie selbst noch ihre Umwelt hatten erwartet, dass sie viel mehr bräuchten. Niemand fand, sie wären nicht ambitioniert, wenn sie länger als ein paar Jahre an einem Arbeitsplatz blieben, im Gegenteil, Loyalität war ehrenhaft. Sie hatten die Fähigkeit besessen, sich hinzusetzen und mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Hatten hart gekämpft und dann die Erfolge genossen.
Sie öffnete die Haustür so lautlos wie möglich, schlich sich in die Küche und legte den Champagner zur Schnellkühlung ins Eisfach. Henrik war nicht zu sehen, die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen. Ein kurze Dusche und her mit der neuen Spitzenunterwäsche, die sie in der Mittagspause gekauft hatte. Als sie ihr Gesicht im Badezimmerspiegel sah, überkam sie wieder die Nervosität. Vielleicht sollte sie sich etwas öfter Mühe geben? Aber wie sollte sie das zeitlich schaffen? Sie zog die silberne Spange heraus, die am Hinterkopf befestigt war, und ließ sich ihre Haare über die Schultern fallen. Er hatte es immer am liebsten gemocht, wenn sie die Haare offen trug.
Sie überlegte kurz, sich nur den Morgenmantel über die schwarze Unterwäsche zu ziehen, wagte es aber nicht. O Gott. Sie stand in ihrem Badezimmer, wo sie zusammen mit ihrer Familie seit bald acht Jahren jeden Morgen und jeden Abend stand, und war nervös, weil sie ihren Mann zum Essen einladen wollte. Wie war es dazu gekommen?
Sie zog sich eine schwarze Jeans und einen Pulli über.
Die Tür zum Arbeitszimmer war immer noch geschlossen, als sie aus dem Bad kam. Sie lauschte, konnte seine Finger auf der Tastatur aber nicht hören. Dort drinnen war alles still. Doch dann plötzlich das Pling, das ertönte, wenn eine E-Mail abgeschickt wurde. Vielleicht war er fertig mit der Arbeit?
Schnell deckte sie den Tisch mit den feinen Tellern und wollte gerade die Kerzen anzünden, als er auf einmal in der Küchentür stand. Er warf einen Blick auf die festlich gedeckte Tafel, aber in seinem Gesicht war keine Spur von Freude zu lesen.
Sie lächelte ihn an.
»Machst du das Deckenlicht aus?«
Er zögerte kurz, bevor er sich umdrehte und tat, worum sie ihn gebeten hatte. Sie nahm die Champagnerflasche, entfernte den Metalldraht und zog den Korken heraus. Die Sektgläser, die sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten, standen schon auf dem Tisch. Er verharrte in der Tür, machte keinen Ansatz, ihr entgegenzukommen.
Sie ging auf ihn zu und reichte ihm das eine Glas.
»Bitte schön.«
Nun hatte sie Herzklopfen. Warum half er ihr nicht? Musste er sie lächerlich machen, weil sie es wenigstens versuchte?
Sie ging zurück und setzte sich an den Tisch. Einen kurzen Augenblick glaubte sie, er würde wieder ins Arbeitszimmer gehen. Aber dann kam er endlich und setzte sich hin.
Das Schweigen war wie eine zusätzliche Wand im Raum. Quer über den Tisch verlief sie, und jeder von ihnen saß auf einer Seite. Sie sah auf ihren Teller hinunter, konnte aber nicht essen. Auf dem Stuhl neben ihr lag der blaue Plastikhefter mit den Tickets. Sie fragte sich, ob er ihre Hand zittern sah, als sie ihn durch die Wand hinüberreichte.
»Bitte sehr.«
Misstrauisch betrachtete er ihre ausgestreckte Hand.
»Was ist das?«
»Vielleicht etwas Schönes. Schau doch mal nach.«
Er öffnete die Mappe, und sie beobachtete ihn. Sie wusste, dass er immer nach Island hatte fahren wollen. Es war nie etwas daraus geworden. Sie hatte erholsame Ferien in der Sonne vorgezogen, und immer war sie diejenige, die die Ferienreisen
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