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Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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möglich, dass zwei Menschen sich so ähnlich sahen? Er blieb stehen, wollte nicht gehen, bevor er nicht die Gelegenheit gehabt hatte, mit ihr zu reden. Hinterher war es so selbstverständlich, dass er geblieben war. Dass er sein Zögern überwunden und gefragt hatte, ob er ihr helfen könnte. Er wusste nicht mehr, was sie geantwortet hatte. Nur an ihr Lächeln erinnerte er sich. Ein aufrichtiges warmes Lächeln, das ihre Augen zu Schlitzen verschmälerte und ihm das Gefühl verlieh, auserwählt zu sein, einzigartig und schön in den Augen eines anderen.
    Er half ihr mit den Kisten, und danach lud sie ihn in ihr neues Atelier ein und führte ihn stolz und froh herum. Er hatte vor allem sie angesehen. Sie schien umgeben von einem Strahlenglanz. Ihre unverfälschte Natürlichkeit war so anziehend, dass ihm schwindlig wurde. Bereits nach fünf Minuten wusste er, dass sie diejenige war, auf die er immer gewartet, dass sein bisheriges Leben unausweichlich zu dieser Begegnung geführt hatte.
    »Was haben Sie für gewöhnlich zusammen gemacht?«
    Die Frage der Psychologin schleuderte ihn zurück in die Gegenwart. Er drehte sich zu ihr um.
    »Alles Mögliche.«
    »Können Sie ein Beispiel geben?«
    Sie aßen gemeinsam. Er kam um die Mittagszeit von der Arbeit, und sie arbeitete zu Hause, sodass nach einer Weile eine Gewohnheit daraus wurde. Jeden zweiten Tag bei ihr und jeden zweiten Tag bei ihm. Sie war die Erste nach mehreren Jahren, die er in seine Wohnung hereinließ, es war ihm nie gelungen, die Abneigung gegen die Unordnung zu überwinden, die entstand, wenn jemand zu Besuch kam. Sie hatte über seine systematische Ordnung gelacht, behauptet, all die rechten Winkel machten sie nervös, und ihn überredet, die Möbel umzustellen. Sie war sogar hinaufgerannt in ihr Atelier und hatte ein großes Ölbild geholt, das sie im Zimmer aufhängten. Nachdem sie an diesem Abend gegangen war, wurde ihm in aller Deutlichkeit bewusst, wie sehr er sie liebte. Er war in dem Durcheinander herumspaziert, und der Zwang hatte ihm nichts anhaben können. Ohne sich ihrer unerhörten Tat bewusst zu sein, hatte sie es durch ihre bloße Anwesenheit geschafft, die Gefahr zu neutralisieren, die ihn bedrohte.
    In der Nacht stand er nackt vor dem Bild und folgte ihren Pinselstrichen mit dem Finger. Die geriffelte Leinwand weckte ein so starkes Verlangen in ihm, dass es wehtat, aber er wollte es nicht verschwenden. Er wollte es aufbewahren und ihr schenken, wenn sie bereit dafür war.
    »Hatten Sie einen großen Bekanntenkreis?«
    Er drehte sich wieder zum Fenster und steckte die Hand in die Hosentasche. Seine Erinnerungen hatten die irrsinnige Sehnsucht nach Leben erweckt. Diesen Hunger nach Haut, der ihn in den Wahnsinn treiben würde, wenn sie ihn nicht bald anfasste.
    »Nicht besonders.«
    »Und Verwandte?«
    »Ihre Eltern sind bei einem Autounfall gestorben, als sie vierzehn war. Sie ist ein typisches Löwenzahnkind, das trotzdem mit dem Leben zurechtgekommen ist. Unverwüstlich. Stark und stur.«
    »Hat sie Geschwister?«
    »Einen Bruder, aber der wohnt in Australien.«
    »Und Sie?«
    Er drehte den Kopf und sah sie an.
    »Was ist mit mir?«
    »Ihre Eltern?«
    »Was soll mit denen sein?«
    »Das weiß ich nicht. Erzählen Sie.«
    »Wir haben keinen Kontakt. Ich bin nach Stockholm gezogen, als ich achtzehn war, es war ein gutes Gefühl, wegzukommen.«
    »Wovon wegzukommen?«
    »Ich habe nördlich von Gävle gewohnt.«
    »Ja, aber die meisten halten ja Kontakt zu ihrer Familie, auch wenn sie zu Hause ausziehen.«
    »Aha.«
    Neun Worte hatte seine Mutter zu ihm gesagt, nachdem der Betrug aufgeflogen war. Neun Worte. Es war an seinem achtzehnten Geburtstag, er saß in der Küche und frühstückte, war gerade von seiner Zeitungsrunde zurückgekehrt. Drei Monate lang hatte er getan, was er konnte, damit ihm vergeben würde, sie war nicht zugänglich gewesen. Und sein Vater hatte sich in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Gävle verschanzt, um der Scham zu entkommen, die ihre bodenlose Traurigkeit und Enttäuschung verursachte. Hatte seine Kleidung und das eine Bett aus dem Schlafzimmer mitgenommen und war verschwunden.
    Plötzlich stand sie in der Küchentür. Sie hatte den geblümten Morgenmantel an, der so gut roch, der nach Mama roch. Freude erfüllte ihn, und er dachte, dass sie vielleicht, ganz vielleicht, bereit war, ihm zu vergeben. Es war sein Geburtstag, und sie stand in der Küchentür.
    Neun Worte sagte sie.
    Ich will nicht, dass du hier noch

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