Der Seitensprung
plante und organisierte.
»Ich dachte, Axel könnte bei meinen Eltern bleiben, damit ausnahmsweise mal wir beide, du und ich, zusammenfahren könnten.«
Er hob den Blick und sah sie an, seine Augen machten ihr Angst. Nie zuvor hatte sie jemand mit einer solch vernichtenden Kälte angesehen. Dann legte er den Hefter auf den Tisch und stand auf, sah ihr direkt in die Augen, als wollte er sichergehen, dass auch wirklich jedes Wort verständlich war.
»Es gibt nichts, absolut nichts, worauf ich mit dir zusammen Lust habe.«
Jede einzelne Silbe wie eine Ohrfeige mitten ins Gesicht.
»Wenn Axel und das Haus nicht wären, hätte ich mich schon längst verabschiedet.«
DIE PSYCHOTHERAPEUTIN Yvonne Palmgren hatte darauf bestanden, dass das, was sie »das erste Gespräch« nannte, in Annas Zimmer stattfand. Jonas hatte keine Einwände, dort würde ihn zumindest der Zwang in Ruhe lassen. Wozu das Gespräch jedoch gut sein sollte, fiel ihm schwer zu begreifen. Aus Angst, sie könnten ihm die Übernachtungen wegnehmen, wenn er die Zusammenarbeit verweigerte, hatte er dem Treffen trotzdem zugestimmt.
Sie saß auf einem der Stühle am Fenster, vielleicht fünfzig, fünfundfünfzig. Der weiße Kittel hing offen über einer grauen Hose und einem roten Pullover. Eine kindische Halskette, die aus großen farbenfrohen Plastikperlen bestand, ruhte auf ihrem fülligen Busen, und vier Filzstifte in schreienden Neonfarben steckten in ihrer Brusttasche. Vielleicht sollten all diese fröhlichen Farben die Schwärze aufwiegen, mit der sie in den Seelen ihrer angsterfüllten Patienten täglich konfrontiert wurde.
Er selbst saß auf Annas Bettkante und hielt ihre gesunde rechte Hand.
Er spürte, wie die Frau auf dem Stuhl ihn beobachtete. Er wusste genau, was sie dachte.
»Wo sollen wir anfangen?«
Er wandte den Kopf zur Seite und sah sie an.
»Keine Ahnung.«
Er war hergekommen wie verabredet, der Rest war nicht sein Problem, darum durfte sie sich kümmern. Nicht er hatte das Bedürfnis, dieses Gespräch zu führen, sondern die Verwaltung, damit sie guten Gewissens Annas Rehabilitation abschließen und ihr Gehirn langsam, aber sicher absterben lassen konnten, sodass sie das Problem los wurden. Aber ihn auf ihre Seite zu ziehen, das konnten sie vergessen.
»Bereitet es Ihnen Mühe, dieses Gespräch zu führen?«
Er seufzte.
»Nein, nicht besonders, ich verstehe nur nicht, wozu es gut sein soll.«
»Glauben Sie nicht, Ihre abwehrende Haltung könnte darauf beruhen, dass Sie Angst haben?«
Darauf wollte er nicht einmal antworten. Was, zum Teufel, wusste sie über Angst? Allein die Frage bewies, dass sie niemals auch nur in ihre Nähe gekommen war. Nie das sinnlose Entsetzen darüber gespürt hatte, alles zu verlieren. Keine Macht über die eigenen Gedanken zu haben, sein eigenes Leben nicht kontrollieren zu können.
Oder Annas.
»Wie lange haben Sie zusammengelebt? Vor dem Unglück, meine ich.«
»Ein Jahr.«
»Aber Sie haben nicht zusammengewohnt?«
»Nein. Wir wollten heiraten damals, als ... damals, als ... «
Er brach ab und betrachtete Annas geschlossene Lider.
Die Frau auf dem Stuhl veränderte ihre Position. Stützte sich auf die Armlehnen und faltete dann die Hände über dem aufgeschlagenen Ordner auf ihrem Schoß.
»Anna ist ein bisschen älter als Sie.«
»Ja.«
Yvonne Palmgren warf einen Blick in ihre Papiere.
»Fast zwölf Jahre.«
Er blieb stumm. Warum sollte er antworten, wenn sie ihre krankhafte Neugierde durch Ablesen befriedigen konnte.
»Können Sie ein wenig von Ihrer Beziehung erzählen? Wie Ihr Leben aussah, bevor das alles passierte? Erzählen Sie von einem ganz gewöhnlichen Tag, wenn Sie wollen.«
Er stand auf und ging zum Fenster. Er hasste das hier. Aus welchem Grund sollte er sein und Annas Leben einem fremden Menschen ausliefern? Mit welchem Recht stapfte sie in ihre gemeinsamen Erinnerungen hinein?
»Haben Sie darüber gesprochen zusammenzuziehen?«
»Wir wohnen im selben Haus. Anna hat ein Atelier ganz oben im selben Treppenhaus. Sie ist Künstlerin.«
»Aha.«
Er konnte sich noch so gut an ihr erstes Treffen erinnern. Er hatte die Post des Tages verteilt, war zu Hause gewesen, um ein paar Stunden zu schlafen, und war nun auf dem Weg zum Einkaufen. Sie stand im Erdgeschoss im Hausflur und lud Kartons in den Aufzug. Sie grüßten einander, und er hielt ihr die Tür auf, als sie hinaus zu ihrem Auto ging, um die letzte Kiste zu holen. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Wie war es
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