Der Seitensprung
Telefons ließ sie nach Luft schnappen. Aus einem einzigen Grund nahm sie den Hörer ab. Er hätte es sein können.
»Eva.«
»Hallo, hier ist Mama.«
»Ach so, hallo.«
Sie legte sich wieder hin.
»Wie war es gestern Abend?«
»Doch, danke gut. Hat es mit Axel gut geklappt?«
»Ja klar, aber gegen halb zwei ist er aufgewacht, er war traurig und wollte euch unbedingt anrufen, obwohl wir gesagt haben, es wäre zu spät. Wir haben es auf euren Handys probiert, aber die waren ausgeschaltet, und zu Hause war die ganze Zeit besetzt. Hattet ihr einen netten Abend?«
Die ganze Zeit besetzt?
»Ja, doch, es war nett.«
Wen hatte er so spät angerufen? Denn sie hatte kein Klingeln wahrgenommen. Und wenn er im Netz gewesen wäre, hätte man das Telefon trotzdem gehört.
»Papa und ich wollten fragen, ob ihr am Sonntag zu uns kommen und mit uns essen wollt. Ich habe noch einen Elchbraten vom Herbst im Tiefkühler und wollte etwas daraus machen. Leider habe ich vergessen, Henrik zu fragen, als er hier war, um Axel abzuholen, aber meistens hast sowieso du den Überblick über euren Terminkalender. Übrigens, Henrik ist so schmal geworden! Er hat bestimmt ein paar Kilo abgenommen, oder?«
Sie setzte sich wieder auf. Plötzlich bekam sie kaum noch Luft.
»Hallo!«
»Ja.«
»Bist du noch da?«
»Ja.«
»Was sagst du zu dem Essen am Sonntag?«
Sonntag? Essen?
»Ich glaube nicht, dass wir da können. Du, ich muss jetzt los zur Arbeit, ich stand gerade in der Tür, wir sprechen uns ein anderes Mal.«
Sie drückte die Gabel mit dem Zeigefinger hinunter und blieb mit dem stummen Hörer am Ohr sitzen. Wie hatte sie so blind sein können. So verdammt leicht hinters Licht zu führen. Wie bei einem magnetischen Puzzle fielen plötzlich alle Teile an die richtige Stelle. Kleine unregelmäßige Teile, die sie verwirrt hatten, die sie jedoch aufgrund ihrer Unwahrscheinlichkeit zielstrebig von sich geschoben hatte. Späte Versammlungen. Eine eilige Konferenzreise nach Aland mit einem ihr unbekannten Auftraggeber. Hastig beendete Telefongespräche, wenn sie zur Tür hereinkam.
Sie stand auf, zog ihren Morgenrock über und ging ins Arbeitszimmer. Die plötzliche Bedrohung pochte in ihrem Magen. Es musste etwas geben. Einen Zettel, einen Brief, eine Telefonnummer.
Sie begann mit den Schreibtischschubladen. Durchsuchte systematisch beide Aktenschränkchen, Lade für Lade, die eine Gehirnhälfte dabei zielbewusst, die andere starr vor Angst, einen Beweis für das zu finden, was sie im Grunde bereits wusste.
Nie im Leben hatte sie geglaubt, dass sie sich einmal in dieser Situation befinden würde. Nie.
Sie fand nichts. Nur sichere Beweise der Gültigkeit ihrer Familie. Lebensversicherungen, Pässe, Kontoauszüge, Axels Impfpass, den Schlüssel zum Schließfach bei der Bank. Wo würde er etwas verstecken, das sie auf keinen Fall finden durfte? Gab es einen einzigen Ort in diesem Haus, an dem sie nie nachsah? Wo er wusste, dass sein Geheimnis sicher war?
Plötzlich das Geräusch der Haustür, die geöffnet wurde.
Ertappt wie ein Dieb, huschte sie zurück ins Schlafzimmer. Musste nachdenken. Musste es herausbekommen. Wer war sie? Wer war die andere Frau, die gerade dabei war, ihr ihren Mann wegzunehmen? Ihr Leben zu zerstören? Die Bedrohung pulsierte durch ihren Körper.
Im selben Augenblick, als sie seine Schritte die Treppe hinaufkommen hörte, öffnete sie die Schlafzimmertür und trat hinaus.
Sie blieben stehen, Auge in Auge, zwei Meter voneinander entfernt.
Ein Zeitalter zwischen ihnen.
Er sah vor allem erstaunt aus, als er sie erblickte.
»Bist du nicht auf der Arbeit?«
Er ging weiter zu seinem Platz am Küchentisch, das alltägliche Geräusch der scharrenden Stuhlbeine auf dem Holzboden. Dann zog er die Dagens Nyheter zu sich heran, und sie verlor ihre gesamte Selbstbeherrschung. Ohne zu zögern, ging sie zu ihm, riss die Zeitung an sich und schleuderte sie auf den Fußboden. Er starrte sie an.
»Bist du nicht ganz richtig im Kopf?«
In seinen Augen lag immer noch die Kälte. Eine Gleichgültigkeit, die ebenso wirksam war wie eine polizeiliche Absperrung. Sie war nicht mehr willkommen. Bewaffnet mit seinem Geheimnis, hatte er sich unangreifbar verschanzt, gut geschützt vor ihren Angriffen. Sie selbst stand splitternackt und wehrlos da, ohne jegliche schlagkräftige Waffe, mit der sie hätte kämpfen können.
Die Wut schlug über ihr zusammen. Eine Lust, zu schlagen, zu verletzen, zu zerstören. Ihm wehzutun.
Weitere Kostenlose Bücher