Der Seitensprung
Das Gleichgewicht wiederherzustellen. Sie hasste die Schwäche, die er in ihr erzeugte.
»Ich will nur die Antwort auf eine einzige Frage. Wie lange geht das schon?«
Sie sah, dass er schluckte.
»Was denn?«
Er musste die Gefahr gespürt haben, denn er wagte nicht länger, ihrem Blick zu begegnen. Das beruhigte sie, brachte sie beinahe zum Lachen. Langsam, aber sicher gewann sie die Oberhand zurück. Sie war diejenige, die das Recht auf ihrer Seite hatte. Er hatte gelogen und sie betrogen und sollte Rede und Antwort stehen. Sollte sich schämen.
Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber.
»Tja, vielleicht hast du mehrere Eisen im Feuer, aber ich dachte zunächst an die, mit der du heute Nacht telefoniert hast.«
Er erhob sich. Ging zum Waschbecken und trank direkt aus dem Hahn. Sie beherrschte sich, um nicht all die Worte hinauszuschreien, die sich auf ihrer Zunge drängten. Die wirksamste Folter bestand darin, schweigend dazusitzen, das Schlimmste, was sie ihm antun konnte, war, ihn reden zu lassen.
Er richtete sich wieder auf und wandte sich ihr zu.
»Das war bloß jemand, mit dem ich befreundet bin.«
»Aha. Jemand, den ich kenne?«
»Nein.«
Kurz und sachlich. Sein gerader Blick brachte sie plötzlich ins Wanken. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah er sie direkt an, ohne dass sein Blick flackerte. Woher nahm er die Stärke, wenn sie nicht daherrührte, dass er unschuldig angeklagt wurde ?
»Wie heißt sie denn? Und wo hast du sie kennen gelernt? Denn ich vermute mal, dass es eine Sie ist.«
»Spielt das eine Rolle?«
»Ja. Wenn mein Mann eine so gute Freundin hat, dass er sie mitten in der Nacht anruft, um mit ihr zu reden, während ich im Zimmer nebenan liege, dann möchte ich das gerne wissen.«
Sie sah, dass er zögerte. Wie er einen benutzten Kaffeebecher in die Hand nahm und in die Spülmaschine stellte. Dann kam er und setzte sich wieder an den Tisch.
Mann und Frau, von Angesicht zu Angesicht über ihrem vertrauten Küchentisch.
Eine plötzliche Ruhe.
Jetzt würden sie reden. Eine sachliche Pause im Orkan, die ihnen gestattete, einander näher zu kommen, als würden sie über andere Leute sprechen. Alle Fragen würden endlich beantwortet, alle Lügen gestanden werden. Die Wirklichkeit sollte enthüllt werden und die Wahrheit nackt und bloß vor ihnen stehen. Was danach passieren würde, war im Moment unwichtig; darüber schienen sie unausgesprochen übereingekommen zu sein.
Hauptsache, es würde endlich die Wahrheit gesagt werden.
»Sie heißt Maria.«
Maria.
»Und wo hast du sie getroffen?«
»Sie ist Graphikdesignerin bei Widmans.«
»Wie lange kennst du sie schon?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ein halbes Jahr vielleicht.«
»Warum hast du mir nicht von ihr erzählt?«
Keine Antwort.
»Warum hast du sie heute Nacht angerufen?«
»Woher weißt du, dass ich das getan habe?«
»Spielt das eine Rolle? Du hast es gemacht, oder nicht?«
»Ja. Ich habe sie in der Nacht angerufen. Sie ist ...«
Er unterbrach sich und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, schien nichts lieber zu wollen, als aufzustehen und zu gehen.
»Ich weiß nicht. Man kann gut mit ihr reden.«
»Worüber?«
»Alles Mögliche.«
»Über uns?«
»Ja, das ist vorgekommen.«
Wieder die Übelkeit.
»Was erzählst du dann?«
»Na, ich habe wohl gesagt, wie es ist.«
»Aha, und wie ist es?«
Sein tiefes Einatmen verriet seine Unlust.
»Ich habe gesagt, dass wir, ja, dass ich, zum Teufel, man kann ganz einfach gut mit ihr reden. Es macht Spaß, mit ihr zusammen zu sein.«
Es macht Spaß, mit ihr zusammen zu sein.
Wir haben keinen Spaß mehr.
Maria.
Ihr Ehemann hatte heute Nacht um zwei Uhr Maria von Widmans angerufen. Er hatte mit Maria telefoniert, während sie allein mit ihren verzweifelten Fragen und der neuen Unterwäsche im Schlafzimmer lag.
Verflucht.
Was hatte er gesagt? Hatte er von der Reise erzählt und von dem Champagner, den sie gekauft hatte? Allein bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Irgendwo gab es eine Frau, die mehr über ihre Beziehung wusste als sie selbst, die mit Einzelheiten ihres Lebens vertraut war, an die sie nicht herankam. Sie war verraten, ausgeliefert. Einer Frau unterlegen, die sie nie gesehen hatte. Die Wirklichkeit war im Anmarsch. Die Pause beendet.
»Was meinst du, wie das für mich ist? Dass du mich und unsere Beziehung ihr auslieferst?«
Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Tür zum Arbeitszimmer, aber sie hatte nicht vor, ihn davonkommen zu
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