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Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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verwandelt.
    Er wusste, dass er nicht im Haus bleiben konnte. Es gab nur eine einzige Art, sie dazu zu bringen, wieder leben zu wollen. Er musste verschwinden. Er wachte über sie, aber sie wollte ihn nicht dort haben.
    Er sah in den Garten. Die einst so gepflegten mehrjährigen Pflanzen in den Beeten lagen verwelkt auf der Erde, unfreiwillig verwachsen mit Giersch und anderem Unkraut.
    Das Unkraut war er.
    Ich will nicht, dass du hier noch länger wohnst.
    Auf Seite sechzehn passten die Einzelteile zusammen. Es war vorherbestimmt gewesen, dass er ausgerechnet heute eine Zeitung übrig behalten würde, irgendetwas hatte dafür gesorgt, dass gerade er an diesem Tag zum Lesen gezwungen war. Der Zwang war ausnahmsweise auf seiner Seite gewesen.
    1 Zi. m. K., Sthlm, wg. Auslandsumzugs an ordentliche Person zu vermieten.
    An diesem Morgen blieb er lange auf der Treppe sitzen. Schon am selben Vormittag erledigte er die beiden Telefonate, und vier Tage später nahm er den Zug nach Stockholm, um ein Bewerbungsgespräch zu führen. Er kehrte noch am selben Abend zurück, sie hatte seine Abwesenheit gar nicht bemerkt. Die folgenden Wochen glichen einer einzigen langen Wartezeit, aber er wusste, dass es vorherbestimmt war. Als die Bescheide kamen, dass er sowohl Wohnung als auch Job bekommen hatte, nahm er sie als Selbstverständlichkeiten auf. Stolz, dass er es gewagt hatte.
    An diesem Abend zögerte er lange vor der geschlossenen Schlafzimmertür, bevor er endlich anklopfte. Sie bat ihn nicht herein. Schließlich drückte er die Klinke trotzdem hinunter und öffnete die Tür einen winzigen Spalt. Sie lag da und las. Das blaue Rollo war heruntergezogen, und die Nachttischlampe brannte. Sie zog die Decke hoch bis zum Kinn, als wollte sie sich vor seinem Blick schützen. Als wäre ein Fremder in ihr Zimmer eingedrungen. Die einzelne Federkernmatratze in dem doppelt so breiten Kiefernrahmen war ein Hohn. Sie schlief neben einem Loch, das sie jeden Augenblick mit grausamer Deutlichkeit an die Erniedrigung und den Betrug erinnerte, die sie ihr angetan hatten.
    »Ich ziehe nach Stockholm.«
    Sie antwortete nicht. Löschte nur die Nachttischleuchte und legte sich mit dem Rücken zu ihm auf die Seite. Er blieb eine Weile stehen, unfähig, noch etwas zu sagen. Dann machte er einen Schritt rückwärts und zog die Tür zu.
    Als Letztes erhaschte er einen Blick auf den geblümten Morgenmantel.
    Yvonne Palmgren kam eine Minute vor zwei. Grüßte kurz und setzte sich dann wieder auf den Stuhl am Fenster. Diesmal lächelte sie nicht. Sie taxierte ihn mit einem so zielstrebigen Blick, dass er bereute, sich mit der Fortführung des Gesprächs einverstanden erklärt zu haben. Er nahm Annas Hand in seine. Hier war er sicher.
    »Ich habe ein paar Anrufe getätigt seit heute Morgen.«
    »Aha.«
    Einer der vier neonfarbenen Filzstifte in der Brusttasche fehlte.
    Nicht drei!
    Er überlegte, ob sie Bescheid wusste. Ob sie mit ihrem gediegenen Psychologiestudium und ihrem durchdringenden Blick direkt in seine gut verborgene Hölle blicken konnte. Die drei Stifte waren ein Signal, eine Art, ihn zu schwächen, eine Kriegserklärung von ihrer Seite, die beweisen sollte, wer hier die Oberhand hatte.
    Er drückte Annas Finger fester.
    Sie schlug den Plastikhefter auf. Las ein paar Worte und sah ihn wieder an.
    »Ich möchte, dass wir über das Unglück sprechen.«
    Das plötzliche Gefühl von sich nähernder Gefahr.
    »Ich weiß, Sie haben angegeben, dass Sie keine Erinnerungen an den eigentlichen Unglücksfall haben, aber ich will, dass wir gemeinsam versuchen, Ihre Erinnerungen wieder zu finden. Hier habe ich den Polizeibericht.«
    Die Frau auf dem Stuhl betrachtete die verflochtenen Hände der beiden.
    »Ich verstehe, dass das sehr anstrengend für Sie ist. Sollen wir vielleicht lieber woanders darüber reden? Wenn Sie wollen, können wir in mein Zimmer gehen.«
    »Nein.«
    Eine Weile saß sie schweigend da. Ihre durchdringenden Augen.
    »Ich kann mich nicht erinnern.«
    »Das sehe ich hier in den Unterlagen, aber die Wahrheit ist, dass Sie sich entschieden haben, sich nicht zu erinnern. Das Gehirn funktioniert so, um uns vor traumatischen Erlebnissen zu schützen. Es verdrängt die Dinge, die für unser Ich zu belastend sind. Das bedeutet nicht, dass Sie sich nicht erinnern können. Dort drinnen ist alles vorhanden. Früher oder später kommt es an die Oberfläche, und dann werden Sie sich damit auseinander setzen müssen, wie schmerzhaft es auch sein

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