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Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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gesamte Dasein dieses Menschen gefährdete, war sie unverzeihlich.
    Was man allerdings unter gar keinen Umständen tun durfte, ohne es sich vorher genau zu überlegen, war, die Ohrringe in der Duschkabine hinter dem Eukalyptusbad dieses Menschen zu vergessen.

 
    NACHDEM YVONNE PALMGREN sie in Ruhe gelassen hatte, war er bei Anna geblieben. Das Zimmer hatte er nur ein einziges Mal verlassen, um die Mikrowelle im Personalraum zu benutzen, wo er das Mittagessen aufwärmte, das er sich mitgebracht hatte. Er fragte sich, wie viele Piroggen und Pizzastücke von der Firma Gorby er in den letzten beiden Jahren wohl gegessen hatte, huschte aber schnell zurück in Annas Zimmer, bevor sein Gehirn ihn zwang, die genaue Anzahl auszurechnen.
    Es vergingen zwei Monate, es vergingen drei. Seine Mutter verließ noch immer nicht das Schlafzimmer, in dem sie sich eingeschlossen hatte. Der Zwang regierte sein gesamtes Leben, aber vor der stummen Strafe zu fliehen hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Ihr Schweigen dauerte an. Jede Nacht machte er sich hastig auf den Weg, um seine Zeitungen auszuteilen, und eilte anschließend wieder nach Hause, damit sie nicht allein war. Sein Vater hielt sich fern. Hin und wieder, aber nicht besonders regelmäßig, kam ein Brief mit einigen Tausendern, damit die Öl- und Stromrechnungen bezahlt werden konnten. Viel mehr Ausgaben gab es in dem Haushalt nicht. Das Geld für Lebensmittel nahm er von seinem eigenen Lohn. Das Haus gehörte ihr, sie hatte es von ihrer Tante geerbt. Die Einnahmen des Vaters aus seiner Tätigkeit als Rohrleger hatten ausgereicht, um die Kosten der Familie zu decken, seine Mutter hatte nie arbeiten müssen. Ihre gesamte Identität bestand aus ihren Rollen als Ehefrau ihres Mannes und Mutter ihres Sohnes.
    An einem Dienstag fand er die Annoncen, und das Ganze begann mit einer Katastrophe. Jede Nacht dasselbe Ritual. Den Stapel Zeitungen holte er unten bei der Pizzeria ab. Es wurden immer einige zusätzliche Exemplare mitgeschickt, und vor jeder seiner nächtlichen Runden zählte er noch einmal durch, um nur die exakte Anzahl von Zeitungen mitzunehmen, die er benötigte. Dies war die einzige Art, hinterher vollkommen sicher zu sein, dass er keinen Briefkasten vergessen hatte. Richtig sicher konnte er trotzdem nie sein, an manchen Tagen hatte ihn die Unruhe verfolgt, weil er sich einbildete, einen Abonnenten vergessen und bei einem anderen zwei Exemplare eingeworfen zu haben.
    Zuerst zählte er die zweiundsechzig Zeitungen ab, die er direkt vom Stapel brauchte. Dann holte er die Plastikfolie heraus, die er immer im Rucksack aufbewahrte, und legte sie auf den Boden, um die Zeitungen vor Nässe zu schützen. Danach teilte er sie in sechs Häufchen von jeweils zehn ein. Die einundsechzigste und die zweiundsechzigste legte er gleich in die Tasche auf dem Gepäckträger. Nachdem er die Zehnerstapel viermal nachgezählt hatte, war er bereit, sie in die Tasche zu stecken und loszufahren. Immer dieselbe Strecke. Durch den Kies.
    Und genau an diesem Dienstag passierte, was nicht passieren durfte.
    Er behielt ein Exemplar übrig.
    Jemandes Briefkasten war leer geblieben.
    Die Kästen der Einfamilienhäuser hätte man kontrollieren können, doch was, wenn vielleicht schon jemand die Zeitung hereingeholt hätte, der ganz und gar nicht derjenige war, der keine erhalten hatte? Und die zehn Wohnungen im Mietshaus über der Pizzeria, die einen Briefschlitz in der Eingangstür hatten. Wie sollte er erkennen, ob er einen von ihnen vergessen hatte?
    Er spürte, wie die Panik wuchs.
    Die übrig gebliebene Zeitung brannte in seinen Händen, und er war nicht in der Lage, sich ihrer zu entledigen. Als er zu Hause ankam, blieb er auf der Treppe vor der Haustür stehen, die Zeitung hielt er noch immer in der Hand.
    Sandviken-Falun 68, Skövde-Sollefteå 696.
    Er musste sie lesen. Er musste jedes Wort lesen, um sein Scheitern zu neutralisieren. Er setzte sich auf die Treppe. Es wurde gerade hell. Die Steintreppe war kalt, und bereits nach der ersten Seite fror er so sehr, dass er zitterte, aber er musste weiterlesen. Jeder einzelne Buchstabe musste gesehen und von einem sehenden Auge gewürdigt werden. Das war seine einzige Chance.
    Auf Seite zwölf fand er sie.
    Briefträger für den Distrikt Stockholm gesucht.
    Zuerst erschienen die Worte allzu fremd, doch immer wieder suchten sich die Augen ihren Weg zurück, und nach achtmaligem Durchlesen hatten sie sich plötzlich in eine Möglichkeit

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