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Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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unbekannter Feind heimliche Pläne, und der Einzige, dem sie vertrauen zu können geglaubt hatte, hatte sich als Verräter entpuppt.
    Das Klingeln ihres Handys zwang sie, sich zusammenzunehmen. Sie sah auf dem Display, dass es der Kindergarten war.
    »Eva.«
    »Hallo, hier ist Kerstin aus dem Kindergarten. Es ist nichts Ernstes, aber Axel hat sich beim Hinfallen an der Rutsche gestoßen und möchte gerne abgeholt werden. Ich habe versucht, Henrik zu erreichen, weil er ihn ja normalerweise abholt, aber der geht nicht ans Telefon.«
    »Bin schon auf dem Weg, in einer Viertelstunde bin ich da.«
    »Es ist nichts Schlimmes, er hat wohl vor allem einen Schreck gekriegt. Linda sitzt mit ihm im Personalzimmer.«
    Sie drückte das Gespräch weg und beschleunigte ihren Schritt. Der Asphalt der alten Villenstraße war aufgebrochen, damit Fernwärme und Breitbandkabel verlegt werden konnten, und sie musste hinter einem Absperrkegel stehen bleiben, um ein Auto vorbeizulassen.
    Breitbandkabel.
    Noch schneller.
    Sie betrachtete die alten Häuser aus der Jahrhundertwende, die die Straße säumten. In diesem Teil der Gegend waren sie so groß wie geschrumpfte Herrenhöfe, nicht wie an ihrem Ende, wo die Häuser kleiner waren, die erste Möglichkeit für einen gewöhnlichen Beamten, sich ein eigenes Haus zu bauen.
    Hundert Jahre. Was hatte sich nicht alles seitdem verändert. Gab es überhaupt etwas in der Gesellschaft, was so war wie damals? Autos, Flugzeuge, Telefone, Computer, Arbeitsmarkt, Geschlechterrollen, Werte, Glaube. Ein Jahrhundert der Veränderungen. Das zudem die schlimmsten aller Grausamkeiten hervorgebracht hatte, die die Menschheit bislang hatte aufbieten können. Oft hatte sie ihr eigenes Leben mit dem ihrer Großeltern verglichen. Sie mussten so viel durchmachen und sich an so vieles anpassen. Würde jemals wieder eine Generation so viel Entwicklung und Veränderung erleben, wie sie es notgedrungen durchgestanden hatten? Alles hatte sich verändert. Im Grunde fiel ihr nur eine einzige Sache ein, die noch dieselbe war. Oder von der zumindest erwartet wurde, dass sie dieselbe wäre. Die Familie und die lebenslange Ehe. Die sollte genauso funktionieren wie früher, obwohl sich alle äußeren Belastungen und Umstände verändert hatten. Doch die Ehe war kein gemeinsames Unternehmen mehr, in dem Mann und Frau jeweils für ihren eigenen unentbehrlichen Einsatz geradezustehen hatten. Die gegenseitige Abhängigkeit gab es nicht mehr. Männer und Frauen waren inzwischen Einheiten, die sich selbst versorgten und dazu erzogen wurden, allein zurechtzukommen, und der einzige Grund, aus dem sie sich für eine Heirat entschieden, war die Liebe. Sie fragte sich, ob es deswegen so schwer war, eine Ehe am Laufen zu halten, weil die gesamte Lebensentscheidung darauf beruhte, dass die Liebe am Leben blieb. Und weil kaum ein Mensch mit kleinen Kindern genug Zeit hatte, um ihr Nahrung zu geben. Die Liebe wurde als selbstverständlich betrachtet und musste zwischen all den äußeren Zwängen irgendwie überdauern. Und das tat sie selten. Sie brauchte mehr als das zum Überleben. Bestimmt die Hälfte ihrer Freunde hatte sich in den letzten Jahren getrennt. Kinder, die jede zweite Woche von einem Elternteil zum anderen zogen. Aufreibende Scheidungen. Sie schluckte. Der Gedanke an die Beziehungsprobleme von anderen machte es nicht leichter, mit den eigenen umzugehen.
    Im immer grauer werdenden Alltag der letzten Jahre hatte sie sich oft gefragt, was eigentlich fehlte. Und hätte sich gewünscht, ihre Gedanken mit jemandem teilen zu können. Natürlich hatte sie ihre Freundinnen, aber oft endeten ihre Frauenabende in einer allgemeinen Klage über das Leben. Eher eine Feststellung als eine Diskussion, warum es so war, wie es war. Eines hatten sie jedoch alle gemeinsam. Die Müdigkeit. Das Gefühl der Unzulänglichkeit. Die fehlende Zeit. Trotz aller Zeit sparenden Hilfsmittel, die man erfunden hatte, seitdem die Häuser entlang der Straße gebaut worden waren, wurde sie immer mehr zur Mangelware. Nun sollten hier Breitbandkabel verlegt werden, um es ihnen zu erleichtern, noch mehr kostbare Sekunden zu sparen. Briefe würden noch schneller beantwortet, Entscheidungen würden gefällt werden, sobald sich eine Wahlmöglichkeit ergab, und Informationen in Sekundenschnelle verfügbar sein, Informationen, die anschließend gedeutet und in geeignete Gedächtnisschubladen einsortiert werden sollten. Aber der Mensch dahinter, dessen Gehirn das alles

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