Der Seitensprung
sein Mut sank. Noch war er nicht bereit, irgendwo einzukehren.
Hinterher war es selbstverständlich, dass er nicht angehalten hatte. Dass er an allen Kneipen in der Götgatan vorbeigegangen, weiter über Slussen und hinein in die Gamla Stan spaziert war, als wäre sein Weg vorgezeichnet gewesen.
Er hatte den Järntorget in Richtung Österlånggatan zur Hälfte überquert, als er sie entdeckte. In einem Fenster mit roter Markise.
Sie saß allein auf einem Barhocker, blickte direkt durch die Scheibe und drehte ein fast leeres Bierglas zwischen ihren Fingern. Er hielt abrupt an. Stand ganz still und starrte sie an.
Die Ähnlichkeit war verblüffend.
Die hohen Wangenknochen, die Lippen. Wie war es möglich, dass ihr jemand so ähnlich sein konnte? Die Augen, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Hände, die ihn nie berührten.
So schön. So schön und vollkommen lebendig. Ganz wie früher.
Er spürte die dumpfen schweren Schläge seines eigenen Herzens.
Plötzlich erhob sie sich und verschwand in den Tiefen des Lokals. Er ertrug es nicht, sie aus dem Blickfeld zu verlieren. Er hastete die letzten Meter über den Platz, öffnete, ohne nachzudenken, die Tür und trat ein. Sie stand am Tresen. All seine Angst war plötzlich wie weggeblasen, übrig blieb nur eine feste Entschlossenheit, ihr nahe sein zu wollen, ihre Stimme zu hören, mit ihr zu sprechen.
Die Theke war rechtwinklig, und er stellte sich so hin, dass er ihr Gesicht sehen konnte. Fast hätte er keine Luft mehr bekommen. Um sie herum schien ein Strahlenglanz zu sein. Alle verlorene Sehnsucht, alle Schönheit, alles von Wert und Bedeutung war in diesem lebendigen Körper vor ihm vereint. Plötzlich drehte sie den Kopf und sah ihn an. Er hörte auf zu atmen. Nichts konnte ihn dazu bringen, ihre Augen loszulassen. Sie wandte sich an den Mann hinterm Tresen.
»Einen Birnencidre, bitte.«
Der Barmann nahm ein Glas aus dem Gestell über seinem Kopf und bediente sie. Sie trug keinen Ring an der linken Hand.
»Achtundvierzig, bitte.«
Sie streckte die Hand nach ihrer Tasche aus, und er brauchte nicht nachzudenken. Ließ die Worte einfach kommen, als wären sie selbstverständlich.
»Darf ich Sie einladen?«
Wieder schenkte sie ihm ihren Blick. Er sah, dass sie zögerte, und wartete atemlos auf ihr Urteil. Wenn sie nein sagte, würde er untergehen.
Dann lächelte sie ein wenig.
»Klar.«
Er fragte sich verwirrt, ob das, was er empfand, Freude war. So lange her, dass er das Gefühl nicht mehr identifizieren konnte. Nur die Gewissheit, dass alles ganz selbstverständlich war, Sinn machte, nichts, wovor man sich zu fürchten brauchte.
Eine vollständige, allumfassende Ruhe.
»Danke.«
Wie sollte er seine Dankbarkeit verbergen? Erleichtert beeilte er sich, seine Brieftasche hervorzuholen.
»Ich nehme auch so einen.«
Hastig legte er einen Hunderter auf den Tresen, und der Barkeeper gab ihm ein Glas. Als er sich wieder ihr zuwandte, lächelte sie ihn an.
»Vermutlich bin ich diejenige, die sich bedanken müsste.«
Er hob sein Glas und spürte, wie sein Lächeln sich im ganzen Körper ausbreitete.
»Nein, wirklich nicht, ich habe zu danken. Also Prost.«
»Prost.«
»Und willkommen.«
Ihre Gläser begegneten sich. Die Berührung ging wie ein Stoß durch seinen Körper, obwohl die Gläser dazwischen waren. Er betrachtete sie über den Rand hinweg, seine Augen wagten nicht, sie loszulassen. Mussten sich jede Linie, jeden Zug einprägen. Bis er sie wieder sah.
Sie trank noch zwei große Schlucke. Wenn sie ausgetrunken hätte, wollte er sie noch einmal einladen. Immer wieder.
»Ich heiße Jonas.«
Sie lächelte amüsiert.
»Sieh mal an.«
Plötzlich wurde er unsicher. Wie sollte er sie zum Reden bringen? Irgendwie musste er ihr Vertrauen gewinnen. Fand sie es vielleicht aufdringlich, dass er ihr den Cidre ausgegeben hatte?
»Es ist nicht meine Art, Frauen, die ich nicht kenne, zum Cidre einzuladen, falls Sie das glauben. Nur Sie wollte ich einladen.«
Sie guckte ihn kurz an und starrte dann hinunter in ihr bald ausgetrunkenes Glas.
»Aha. Warum ausgerechnet mich?«
Er vermochte nicht zu antworten. Wie sollte sie jemals in der Lage sein zu verstehen?
»Wie heißen Sie?«
Die Frage war so unzureichend. Er wollte alles wissen. Alles, was sie je gedacht, je gefühlt hatte. Er empfand einen inneren Jubel, weil er fähig war, so zu empfinden.
Sie zögerte, bevor sie antwortete, und er verstand das. Er konnte nicht verlangen, dass sie ihm
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