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Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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verarbeiten sollte, was geschah mit dem? Er war ihres Wissens in den vergangenen hundert Jahren nicht optimiert worden. Sie dachte an die Geschichte, die sie einmal über eine Gruppe von Sioux gehört hatte, die in den fünfziger Jahren von ihrem Reservat in North Dakota zu einem Treffen mit dem Präsidenten geflogen werden sollten. Die mit Hilfe von Düsenmotoren Tausende von Kilometern bis zur Hauptstadt transportiert wurden. Als sie am Flughafen von Washington ankamen, ließen sie sich auf dem Boden nieder und weigerten sich trotz inständiger Bitten, aufzustehen und sich zu den Limousinen zu begeben, die vor dem Gebäude darauf warteten, sie zum Präsidenten zu chauffieren. Einen Monat lang saßen sie dort. Sie warteten auf ihre Seelen, die sich unmöglich so schnell fortbewegt haben konnten, wie ihre Körper es mit Hilfe des Flugzeugs getan hatten. Erst dreißig Tage später waren sie bereit, den Präsidenten zu treffen.
    Vielleicht war es genau das, was all die gestressten Menschen tun sollten, die verzweifelt versuchten, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Vielleicht sollten sie sich alle zusammen hinsetzen und so lange warten, bis sie eine Chance hätten, Schritt zu halten. Doch auf der anderen Seite saßen sie bereits alle, allerdings nicht in Erwartung ihrer Seelen, sondern um sich von ganzem Herzen für all die Doku-Soaps zu engagieren, die ihre Fernsehapparate zu bieten hatten. Um entsetzt zu verfolgen, wie unglücklich andere Menschen waren und wie unfähig, mit Beziehungen umzugehen. Was ging bloß in den Leuten vor? Und dann schnell umschalten, damit man keine Zeit hatte, über sein eigenes Tun nachzudenken. Man war so viel geschickter darin, aus sicherer Entfernung über andere zu richten.
    Sie öffnete die Tür zu Axels Abteilung, streifte die hellblauen Plastikpantoffeln über und ging zum Personalzimmer. Sie sah die beiden durch die Glasscheibe in der Tür und blieb stehen. Er saß auf Lindas Schoß und aß einen Pfefferkuchen. Seine Hand war in eine Strähne ihres blonden Haars eingewickelt. Sie wiegte ihn hin und her und drückte die Lippen an seinen Kopf.
    Die Wut, die sie aufrecht gehalten hatte, ließ nach und machte der vernichtenden Ohnmacht Platz.
    Wie sollte sie ihn vor allem beschützen, was passierte?
    Nicht hier weinen.
    Sie schluckte, öffnete die Tür und trat ein.
    »Guck mal, da kommt Mama.«
    Axel ließ Lindas Haar los und hüpfte hinunter auf den Fußboden. Linda lächelte sie an, schüchtern wie immer. Eva gab sich Mühe zurückzulächeln und nahm Axel auf den Arm. Linda stand auf und stellte sich neben sie.
    »Hier hat er eine kleine Beule, aber ich glaube nicht, dass es etwas Schlimmes ist. Ich hatte ihnen gesagt, dass sie nicht auf die Rutsche dürfen, wenn es geregnet hat, sie ist dann zu glatt, aber ..., sie hatten es wohl vergessen.«
    »Fühl mal, Mama.«
    Sie ertastete die kleine Erhebung an seinem Hinterkopf. Sie war kaum spürbar und bestimmt kein Grund für Linda, ein schlechtes Gewissen zu haben.
    »Kein Problem. Das hätte überall passieren können.«
    Linda lächelte noch einmal ihr scheues Lächeln und ging zur Tür.
    »Dann sehen wir uns morgen, Axel. Tschüs.«
    Auf dem Heimweg hielten sie einander an den Händen. Nachdem Axel seine Wut zum Ausdruck gebracht hatte, weil er zu Fuß gehen musste und nicht wie sonst mit dem Auto fahren durfte, schien er den Spaziergang zu genießen.
    Eine kleine Atempause.
    Nur er redete. Sie selbst ging schweigend neben ihm her und antwortete einsilbig, wenn er es von ihr verlangte.
    »Und als Ellinor dann den Ball genommen hat, wurden wir böse, und da hat Simon ihr mit dem Schläger aufs Bein gehauen, aber Linda hat gesagt, dass man das nicht darf, und dann mussten wir aufhören zu spielen.«
    Er trat gegen einen kleinen Stein.
    »Linda ist wahnsinnig nett.«
    »Ja.«
    »Findest du Linda auch nett?«
    »Ja, sehr.«
    »Gut, das findet Papa nämlich auch.«
    Klar. Wenn er nicht gerade zu Hause in der Dusche mit anderen Frauen herumvögelt.
    »Natürlich tut er das.«
    Er stieß das Steinchen noch einmal vor sich her, diesmal weiter.
    »Stimmt, denn einmal, als wir mit ihr essen gegangen sind, hat er ihr ein Küsschen gegeben, aber er dachte, ich würde es nicht sehen.«
    Alles blieb stehen und wurde weiß.
    »Was ist los, Mama? Wollen wir nicht weitergehen?«
    In einem einzigen Augenblick wurde alles auf den Kopf gestellt. Alles stürzte um, und nichts war, wo es hingehörte.
    Die Einsicht verdrängte innerhalb von einer Sekunde

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