Der Seitensprung
gar nicht wissen. Er hatte seinen Beitrag geleistet und sie ihren. In ihrem Innern war eine Leere, die Unfähigkeit, sich berühren zu lassen. Der einzige Mann, der sie in den vergangenen fünfzehn Jahren angefasst hatte, war Henrik, und nun hatte sie sich einem vollkommen Fremden hingegeben. Und es ließ sie gänzlich kalt.
Im Flur brannte Licht, als sie nach Hause kam. Sie griff nach ihrer Brieftasche, nahm den Ehering heraus und steckte ihn sich wieder an den Finger. So leise sie konnte hängte sie ihren Mantel auf und ging in die Küche. Alles vollkommen ruhig. Auf dem Tisch stand noch Axels Teller, und sie sah, dass die beiden Spaghetti mit Hackfleischsauce gegessen hatten. Ein ganz gewöhnliches Abendessen. Henriks Mobiltelefon lag auf der Küchenbank. Keine einzige Nachricht. Die Liste der Anrufe enthielt keine einzige Nummer, weder angenommene noch selbst gewählte, alles war gelöscht. Der Mistkerl hielt sich für schlau.
Sie ging weiter in Axels Zimmer. Das mondförmige Nachtlicht leuchtete, und der Fußboden war voller Spielsachen, aber das Bett war wie immer leer. Sie setzte sich auf den Boden. Neben ihr auf dem Teppich lag ein Action-Man mit Armen und Beinen, die wie im Krampf erstarrt waren. Er war dort liegen gelassen worden von Händen, die keine Wahl hatten. Deren Leben gerade zerbrach, ohne dass sie sich dagegen wehren konnten.
Sie betrachtete das Spielzeug in ihrer Hand. Wer hatte es ihm geschenkt? Die rechte Hand war so geformt, dass sie eine Waffe greifen konnte.
Sie stand hastig auf. Henriks Schlüsselbund lag in der Jackentasche, und sie setzte ihren Weg in den Keller fort. Der Waffenschrank. Wo er seine Jagdgewehre aufbewahrte. Der einzige Ort in diesem Haus, wo sie nie etwas zu tun gehabt hatte.
Sie fand sie unter einer roten Schachtel mit Munition. Ein Bündel am Computer geschriebene Briefe ohne Umschläge. Ihre Kraft reichte nur, um die ersten vier Zeilen zu lesen. Der Druck auf der Brust. Sie blätterte sie eilig durch und fand ganz unten in dem Stapel zwei zusammengeheftete Bögen von der Schwedischen Immobilienvermittlung. Die Wohnungsobjekte T22 und K18. Das Schwein sah sich nach einer Wohnung um, obwohl ihm bewusst war, dass sie es sich ohne ihn nicht würde leisten können, im Haus wohnen zu bleiben. Er konnte ihr noch nicht einmal so viel Respekt erweisen, ihr mitzuteilen, dass sie demnächst aus ihrem Zuhause würde ausziehen müssen.
Nie im Leben sollte jemand sie so behandeln dürfen.
An Henrik kam sie im Moment nicht heran.
Linda dagegen hatte keine Ahnung, was sie erwartete.
ER GERIET MITTEN in den Stoßverkehr. Normalerweise brauchte er achtzehn Minuten, um zum Karolinska zu gelangen, hin und wieder bis zu vierundzwanzig, aber an diesem Morgen kam er in der gewohnten Zeit lediglich bis zur Abfahrt Bromma. Auf dem Essingeleden wechselte er immer wieder die Fahrspur, aber das half auch nichts.
Dr. Sahlstedt hatte gesagt, er käme am besten sofort.
Warum hatte er ihn nicht gebeten, sich zu beeilen?
Bei der Abfahrt Richtung Klaraberg waren drei Autos ineinander gefahren, und als er sich endlich an dem Unglücksort vorbeigedrängt hatte, wurde der Verkehr etwas flüssiger. Er war diesen Weg so oft gefahren, er fragte sich, wie viele Male es wohl gewesen waren. Und dann das befreiende Gefühl, trotz der Unruhe, dass nichts ihn zwang nachzuzählen.
Sie hatte ihn geheilt.
Und der nächste Gedanke. Vergib mir, Anna. Vergib mir.
Der Geruch von gebratenem Speck. Für immer mit diesem Nachmittag verknüpft, an dem sie ihn verließ. Er spürte die Gefahr, sobald er das Haus betrat. Es war nicht nur der Geruch, da hing noch etwas anderes in der Luft. Das Auto parkte in der Einfahrt, sein Vater war also zu Hause, und um diese Tageszeit war seine Mutter auch immer daheim. Regungslos stand er da mit seiner Jacke und überlegte, ob ihn jemand hatte kommen hören.
Es war vollkommen still. Trotzdem wusste er, dass sie da waren.
Er streckte die Hände aus, konnte die Jacke nicht berühren, die er ausziehen wollte. Spürte, wie der Zwang stärker wurde, und ging ins Badezimmer, um sich zu waschen.
»Jonas!«
Mitten in einem Schritt blieb er stehen. Sein Vater hatte ihn gerufen.
»Ja?«
»Komm her!«
Er schluckte.
»Ich geh mir nur die Hände waschen.«
»Hör auf mit dem Blödsinn und komm her, sage ich!«
Er hatte getrunken. Und war sauer. Das wurde er fast immer, wenn er besoffen war, aber normalerweise kam es nur am Wochenende vor. Dann musste man es vorsichtig
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