Der Seitensprung
Kleider lagen auf dem Fußboden verstreut, ihr fettes rechtes Bein ragte unter der Decke hervor, und keiner von beiden bemerkte sein Kommen. Den Rest der Nacht hatte er auf einem Sofa in der Rezeption zugebracht, aber etwas in ihm hatte genug. Am nächsten Morgen konnte er all die aufgestaute Wut nicht länger kontrollieren. Zum ersten Mal wagte er, nein zu sagen. Verkatert hatte sein Vater in Unterhose auf der Kante des unordentlichen Bettes gesessen und versucht, sich zu entschuldigen. Aber Jonas blieb unbeirrbar. Diesmal würde er es erzählen. Er wollte nicht mehr lügen. Als sein Vater die Entschlossenheit hinter seiner Drohung begriff, war er mit in die Hände gestütztem Gesicht zusammengesunken. Sein Bauch hing ihm über die Unterhose, als er ihn weinend anflehte, nichts zu sagen. Und Jonas war ein weiteres Mal gezwungen gewesen, sich an dem Betrug zu beteiligen.
Seine Mutter drehte den Kopf und sah ihn an. Sie sagte kein Wort, aber die Frage stand kristallklar in ihren Augen geschrieben. Er senkte den Blick, unfähig, sie anzuschauen. Er ging mit gebeugtem Nacken neben ihr in die Hocke, das Gesicht ganz nah an ihrem rechten Bein. Er betete zu Gott, dass sie ihn berühren möge. Mit einem einzigen Zeichen andeutete, dass sie ihm vergab. Dass sie verstand, dass er ihr nie etwas Böses hatte antun wollen. Dass er es nur für sie getan hatte.
»Vergib mir.«
Es vergingen einige Sekunden, vielleicht mehr.
Dann schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. Ohne einen von ihnen anzusehen, verließ sie die Küche.
Und irgendwo tief im Innern wusste er schon in diesem Moment, dass sie nie zurückkehren würde.
Er stellte das Auto direkt vor dem Haupteingang des Karolinska ab, obwohl das Parken dort verboten war. Wer ihm diesmal einen Strafzettel verpasste, war selbst schuld. Der Aufzug hinauf in Annas Abteilung hatte sich nie so langsam bewegt. In jedem Stockwerk stieg jemand ein oder aus, vor lauter Anspannung spürte er plötzlich einen Bleigeschmack auf der Zunge. Er hastete zu Annas Tür und hatte gerade die Hand auf die Klinke gelegt.
»Warten Sie, Jonas!«
Er drehte sich nach der Stimme um. Eine Krankenschwester, die er bislang nur vereinzelt getroffen hatte, eilte auf ihn zu.
»Dr. Sahlstedt kommt gleich. Ich glaube, Sie warten besser auf ihn.«
Zum Teufel! Nichts auf der Welt konnte ihn davon abhalten, zu ihr hineinzugehen, jetzt in diesem Augenblick würde er hineingehen.
Er zog die Tür zu sich heran.
Das Bett war von der Türöffnung aus nicht mehr in Sichtweite, aber was er sah, reichte ihm.
Eine plötzliche Trägheit hinderte ihn daran, den Raum zu betreten. Ein passiver Augenblick, nichts brauchte gedacht, getan, gefühlt zu werden.
Eine Pause, bevor alles zerstört sein würde.
Ein intensiver Wunsch, die Tür wieder zu schließen, nicht gesehen zu haben, dass das Zimmer von einem Licht erhellt wurde, dessen Schein über die Wand flackerte, weil von der Tür, die er soeben geöffnet hatte, ein Luftzug kam.
Eine Hand auf seiner Schulter schnitt alle Fluchtmöglichkeiten ab und holte ihn zurück. Er wandte den Kopf und sah in Dr. Sahlstedts bedrücktes Gesicht. Die unwillkommene Berührung der Hand drückte ihn nach vorn, und im nächsten Moment sah er sie. Das Zimmer aufgeräumt und sauber. Nur das Bett mit Anna darin, eingebettet in weiße Laken. Sonden und Schläuche waren fort und alle Apparate hinaus-gcrollt zu Patienten, die sie noch brauchten.
Dr. Sahlstedt kam zu ihm.
»Sie hatte gegen vier einen Hirnschlag.«
Da hatte er seine Lippen an Lindas Kopf gedrückt.
»Wir konnten nichts mehr tun.«
Er hatte dort gelegen, nackt, und seine für Anna aufgesparte Lust an eine andere Frau verschenkt. Er trat näher und sank auf der Bettkante zusammen, traute sich aber nicht, sie zu berühren. Seine Hände als unleugbarer Beweis.
»Vielleicht möchten Sie eine Weile allein sein?«
Er gab keine Antwort, aber er hörte Dr. Sahlstedts Schritte und dass die Tür geschlossen wurde. Ihre Hände gekreuzt auf der Brust. Die klauenartige linke Hand, die krampfhaft versuchte, die rechte festzuhalten. An ihrem Hals eine weiße Kompresse über dem Loch, das der Schlauch vom Beatmungsgerät hinterlassen hatte.
Einen einzigen Abend hatte er sie allein gelassen, und sie hatte die Chance genutzt. Sie musste begriffen haben. Irgendwie musste sie gespürt haben, dass er bei einer anderen Frau war, und das hier war ihre Strafe. Zwei Jahre und fünf Monate hatte sie ausgeharrt und auf eine günstige
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