Der Seitensprung
immer wenn ich bete, dass dies alles nie passiert sein möge, habe ich gleichzeitig eine Todesangst, dass mein Gebet erhört werden könnte. Dann wird mir klar, dass ich bereit bin, alles zu verlieren, nur um mit dir zusammen zu sein. Ich liebe dich, deine L.
Die Übelkeit wurde stärker mit jedem Wort, das sie las. Sie hatte sich einen Parasiten eingefangen, und ihr Inneres wollte speien, wollte sich ausstülpen, um ihn wieder loszuwerden. In einem unbewachten Moment hatte er sich hineingedrängt und von all ihren inneren Funktionen Besitz ergriffen, er hatte ihre Familie vergiftet und sich trotzdem von Rechts wegen nicht strafbar gemacht. Keine einzige Zeile im Gesetzbuch befasste sich mit dem Verbrechen, das begangen worden war. Diese Frau hatte eine Familie zerstört und die Eltern eines Kindes gegeneinander aufgebracht, der Schaden, den sie angerichtet hatte, war unverzeihlich und würde nie zu reparieren sein. Sie überflog einen der anderen Briefe, fühlte sich aber nicht in der Lage weiterzulesen. Atmen war nicht mehr möglich. Sie schleuderte die Briefe auf den Beifahrersitz und stieg aus, um wieder Luft zu bekommen.
Das Stechen im linken Arm.
Vornübergebeugt blieb sie mit geschlossenen Augen stehen und stützte die Hände auf die Motorhaube. Aus Gustavsberg näherte sich ein Auto, und sie richtete sich auf. Nichts wollte sie weniger, als dass jemand anhielt und sie fragte, wie es ihr ging. Dass sie überhaupt jemand sah. Als das Auto vorbeigefahren war, drehte sie sich um und betrachtete die Briefe durch die Scheibe. Sie lagen dort in ihrem Auto, und sie hasste sie, hasste jedes einzelne schwarze Wort, das sich auf dem weißen Papier abzeichnete. Hasste es, dass es dieselben Buchstaben waren, die sie selbst verwendete, dass sie für alle Zeit gezwungen sein würde, sich desselben Alphabets zu bedienen.
Irgendwo in ihrem Inneren wunderte sie sich über die Leidenschaft, die Henrik in dieser Frau zu erwecken vermocht hatte.
Warum gerade er?
Was sah sie in ihm?
Hatte sie selbst jemals auf die Weise geliebt, die diese Worte beschrieben? Vielleicht am Anfang, doch sie erinnerte sich nicht. Irgendwann, als alles anders gewesen war, hatten sie beschlossen, gemeinsam durchs Leben zu gehen, und um ihren Entschluss zu besiegeln, hatten sie ein Kind in die Welt gesetzt, eine lebenslange Verantwortung. Und als es ihm nun ein bisschen in den Eiern zwickte, sollte alles umgeworfen, jede Kameradschaft aufgehoben werden. Solange er Axels Kindergärtnerin flachlegen durfte und nicht dafür geradezustehen brauchte, war alles gut.
Dieses verfluchte Schwein.
Die Wut überkam sie wieder, und das Stechen im linken Arm klang ab.
Alles war wieder Entschlossenheit.
Sie stieg ins Auto und zog den ersten Brief hervor.
Es war schwer zu glauben, dass sich eine solche Dichterin hinter diesem feigen Lächeln verbarg, das sie ihr jeden Morgen zuwarf. Doch auf der anderen Seite war der Brief perfekt, er brauchte noch nicht einmal überarbeitet zu werden. Und es war hervorragend, dass sie bereit war, alles zu verlieren, da stand es ja schwarz auf weiß, denn genau das würde auf sie zukommen.
Das Gebet der kleinen Linda würde erhört werden, ganz gewiss.
Sie schaute auf die Uhr. Es war inzwischen Viertel nach zehn, Zeit zurückzufahren. Bestimmt hatten sie sich längst mit ihrem eingepackten Mittagessen zu ihrem Waldausflug auf den Weg gemacht.
Sie startete den Wagen, drehte um und fuhr zurück zum Kindergarten.
Um ganz sicherzugehen, stellte sie das Auto auf dem Parkplatz vor dem Ica-Supermarkt ab und lief das letzte Stück zu Fuß. Ausgerechnet jetzt durfte niemand den Wagen in der Nähe des Kindergartens sehen, es durfte sie überhaupt niemand bemerken. Der Spielplatz auf der Rückseite lag verlassen da, nur die schwarzen Reifen an ihren Ketten schaukelten leicht im Wind, ansonsten war alles ruhig. Sie überlegte, ob alle Abteilungen unterwegs waren, das wäre entschieden am besten, wenn sie nur nicht die Tür hinter sich abgeschlossen hatten.
Axels Abteilung war zur Straße hin geschlossen. Sie ging ums Haus, kam an der Rutsche vorbei und sah schon aus der Entfernung, dass die Küchentür einen Spalt offen stand und an einem Plastikhocker lehnte. Vielleicht bereitete Ines gerade die Zwischenmahlzeit für den Nachmittag vor? Sie ging das letzte Stück zur Tür und lauschte. Außer dem Radio waren keine Geräusche zu hören.
Falls jemand sie von einem der Fenster aus beobachtete, durfte sie nicht dort stehen und
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