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Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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aber der berührte ihn nicht mehr. Er bedeutete ihm genauso wenig wie vor drei Jahren und fünf Monaten, als er von seiner Existenz noch gar nichts wusste.
    Bald würde auch er Asche sein.
    Aber sein Körper lebte. Zum ersten Mal lebte und existierte er richtig. Nicht länger als Feind, den er ständig verleugnen, bändigen, zurückdrängen musste. Seine ganze Sehnsucht war plötzlich erlaubt. Das Begehren, das in ihm pulsierte, war keine Bedrohung, sondern einer der Grundsteine für all das Wunderbare, das ihn erwartete.
    Er legte sich die Hand an die Seite des Halses, strich langsam am Brustkorb hinunter und schloss die Augen. Folgte der Erinnerung an ihre Hand und strich weiter über seinen Bauch. Genauso hatte sie ihn berührt. Genauso hatten ihre Hände ihn befreit.
    Warum rief sie nicht an?
    Das Telefon stand im rechten Winkel zum Teppich auf dem Fußboden neben ihm, und er wusste nicht mehr, wie viele Male er es angesehen, seine Hand darauf gelegt hatte, als ob es preisgeben könnte, wie lange er noch würde warten müssen.
    Er wollte so vieles. Er wollte so viel, und endlich war es möglich, und trotzdem konnte er nichts tun, als hier zu warten. Es war wie eine Folter.
    Er dachte an all die phantastischen Möglichkeiten, die ihre Begegnung geschaffen hatte. Alles, was sie zusammen machen würden. Alles, was er sich mit Anna erträumt hatte und ihm nun genommen worden war, jetzt hatte er eine neue Chance bekommen. Er würde wieder anfangen zu arbeiten, es würde sicher nicht schwer sein, die Stelle als Briefträger zurückzubekommen, aber das war nur der Anfang. Nun würde er seinen Traum verwirklichen und diesen Kurs in mathematischer Trigonometrie belegen. Gleich am Montag würde er anrufen und sich anmelden.
    Warum meldete sie sich nicht?
    Er stand auf und ging in die Küche. Das einzig Essbare im Kühlschrank war eine mit Milchreis gefüllte Plastikwurst. Das Datum sagte, dass er sie spätestens gestern hätte essen müssen, aber das hielt ihn nicht auf. Er drückte den Inhalt in einen Topf.
    Wie hatte er so dumm sein können, sie nicht um ihre Telefonnummer zu bitten? Was, wenn sie sich nicht traute anzurufen? Was, wenn sie annahm, er sei nicht an ihr interessiert, weil er eingeschlafen war, ohne nach ihrer Nummer zu fragen? Verdammt, er hatte sie nicht einmal nach ihrem Nachnamen gefragt. Was sollte sie denken?
    Es war so merkwürdig, dass sie nicht mehr geredet hatten. Aber eigentlich wusste er, warum. Sie hatten einander so viel zu sagen, dass sie lieber schwiegen.
    Sie hatten schließlich alle Zeit der Welt.
    Was, wenn sie mit dem Telefonhörer in der Hand dasaß und nicht anzurufen wagte? Der Gedanke verursachte ein Krampfgefühl in seinem Magen. Verfluchter Mist, dass er nicht gefragt hatte! Alles, was er von ihr wusste, war ihr Vorname. Ihr Vorname und dass er sie niemals wieder loslassen würde. Und wenn er dafür ganz Stockholm auf den Kopf stellen musste, er würde sie finden.
    Es war unerträglich, nicht zu wissen, wo sie war. Wenn sie nicht bald von sich hören ließe, würde es ihn wieder überkommen, aber noch war er sicher. Ihre Berührung lag noch immer auf seiner Haut und schützte ihn.
    Aber wie lange noch?
    Er hatte sich gerade den ersten Löffel Milchreis in den Mund gesteckt, als das Telefon klingelte. Hastig raste er zur Spüle, spuckte aus und spülte sich den Mund. Und dann schnell zum Telefon. Zwei Klingeltöne. Alles, was er einstudiert hatte, alles, was er hatte sagen wollen, alles war weg.
    Vier Klingeltöne.
    »Jonas.«
    »Hallo, Jonas, hier ist Yvonne Palmgren aus dem Karolinska. Ich wollte nur hören, wie es Ihnen geht.«
    Er saß stumm und spürte, wie sein Zorn sich steigerte. Es gab nichts, was er dieser Frau sagen wollte. Sie rief aus einem anderen Leben an, das er hinter sich gelassen hatte. Niemand außer Linda hatte das Recht, ihn anzurufen, niemand hatte das Recht, die Leitung besetzt zu halten.
    Die verfluchte Frau am anderen Ende hatte ihn gebeten, loszulassen und weiterzugehen, und genau das hatte er getan. Er war es ihr nicht im Geringsten schuldig, Rechenschaft über seine Gedanken abzulegen, er hatte nur getan, was sie von ihm verlangt hatte.
    Er legte auf.
    Verflucht. Was, wenn Linda gerade jetzt angerufen hatte und es besetzt gewesen war? In diesem Moment hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und sich endlich getraut anzurufen, und dann war besetzt!
    Dieses verfluchte, vermaledeite Weibsstück!
    Er rückte das Telefon wieder gerade, das seinen rechten

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