Der Seitensprung
konnte behaupten, dass sie besonders froh aussah.
»Hallo alle miteinander und herzlich willkommen, darf ich wohl sagen, auch wenn es mir heute Abend keine besondere Freude ist, euch alle hier zu haben. Na, dann könnt ihr euch schon mal hinsetzen.«
Wie brave Kindergartenkinder taten sie, worum sie gebeten worden waren. Zweiunddreißig Väter und Mütter schlurften in ihren Plastikpantoffeln zu ihren Plätzen, Eva zu dem neben ihrem angetrauten Ehemann.
»Wie ihr sicher alle versteht, ist das Ganze für Linda ungeheuer belastend. Ich möchte euch noch einmal versichern, dass sie diese E-Mails nicht verschickt hat, wir haben beide keine Ahnung, wie es zugegangen sein könnte. Die kommunale EDV-Abteilung wird morgen früh beginnen, den Fall zu untersuchen, jetzt am Wochenende war dort niemand zu erreichen.«
»Ist Linda selbst nicht hier?«
Simons Mutter hatte die Frage gestellt. Der Ton war voller Argwohn, es war für alle im Raum klar erkennbar, dass ihr der Liebesbrief an ihren Ehemann äußerst missfiel.
Willkommen im Club.
»Ja, sie kommt jetzt hierher. Ich wollte das nur zuerst sagen.«
Sie trat zur Seite und machte Platz für Linda, die mit gesenktem Kopf im Türrahmen auftauchte. Kerstin legte einen beschützenden Arm um ihre Schultern, und die Berührung ließ Linda aufschluchzen. Eva sah aus den Augenwinkeln, wie Henrik seine Hände zu Fäusten ballte.
Linda räusperte sich, wandte den Blick aber nicht von dem stoßdämpfenden Teppichboden.
Guck nur. Der wird dir nicht helfen.
Dann öffnete sie den Mund zu ihrer Verteidigungsrede.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Es war vollkommen still im Zimmer. Es war lange still, so lange, bis sie richtig anfing zu weinen. Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen, und Henrik rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Hat jemand außer dir Zugang zu deinem E-Mail-Programm?«
Eva erkannte die Stimme nicht wieder, die hinter ihrem Rücken fragte.
»Nein, soviel ich weiß, nicht, und inzwischen kann ich auch selbst nicht mehr hineinkommen. Anscheinend ist das Kennwort ausgetauscht worden.«
Probier mal Schwanzlutscher.
Wieder wurde es still, aber diesmal nicht so lange.
»Was stand denn nun in den Mails?«
Eine Frauenstimme diesmal, auch sie unbekannt.
»Ich weiß nicht. Ich habe sie, wie gesagt, weder geschrieben noch gelesen.«
»Ich kann sie vorlesen, wenn ihr wollt.«
Simons Vater nahm ein zusammengefaltetes DIN-A4-Blatt aus der Jackentasche und räusperte sich, bevor er zu lesen begann, trocken und sachlich wie das Protokoll einer Aufsichtsratssitzung.
»Geliebter. Jede Minute, jeden Augenblick bin ich, wo du bist. Zu wissen, dass es dich gibt, macht mich glücklich. Ich lebe für die kurzen Momente, die wir zusammen haben. Ich weiß wohl, dass es falsch ist, dass wir nicht so fühlen dürften, aber wie soll ich nein sagen können? Ich weiß nicht, wie oft ich beschlossen habe, dich zu vergessen, aber dann stehst du vor mir, und ich schaffe es nicht. Wenn alles herauskäme, würde ich wahrscheinlich meinen Job und du deine Familie verlieren, alles würde im Chaos enden. Und doch kann ich nicht aufhören, dich zu lieben. Und immer wenn ich bete, dass dies alles nie passiert sein möge, habe ich gleichzeitig eine Todesangst, dass mein Gebet erhört werden könnte. Dann wird mir klar, dass ich bereit bin, alles zu verlieren, nur um mit dir zusammen zu sein. Ich liebe dich, deine L.«
Es war, als verwandelte sich die Luft im Raum, während er vorlas. Mit jeder Silbe, die er aussprach, hob Linda den Blick Zentimeter für Zentimeter, um schließlich dem von Henrik zu begegnen. Eva drehte sich ein wenig, um ihn besser sehen zu können. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts. Entsetzen war das erste Wort, das ihr durch den Kopf ging. Dann wandte er sich zu ihr, und zum ersten Mal seit langer Zeit schauten die beiden einander an. Und sie sah, dass er Angst hatte. Angst, der Verdacht, der ihm gekommen war, könnte sich bewahrheiten. Dass sie alles wusste. Dann lächelte sie ihn kurz an und stand auf.
»Hört mal, ich würde gerne eines sagen, wenn ihr erlaubt. Da Linda die E-Mails offensichtlich nicht selbst verschickt hat, müssen wir ihr glauben. Ich meine, stellt euch vor, ihr wärt einer solchen Geschichte ausgesetzt und müsstet hier vor uns allen stehen und euch verteidigen.«
Sie wandte sich an Linda.
»Ich kann wirklich verstehen, dass das ein scheußliches Gefühl sein muss. Ich finde, es war sehr mutig von dir, dich uns allen hier
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