Der Seitensprung
ihn jemand hinterging? Aber dass ihn jemand hinterging, während er sich selbst hinter dem Rücken einer anderen befand, würde mit Sicherheit genügend Interesse bei ihm wecken, dass er in eine Verabredung einwilligte.
Dann ein Räuspern.
»Wir können uns morgen früh um neun treffen. Vor dem Haupteingang des Viking Line-Terminals am Stadsgården. Wie sehen Sie aus?«
»Kein Problem, ich weiß, wie Sie aussehen. Dann bis um neun.«
Er legte auf, schaute lächelnd in das erleuchtete Fenster und ging zurück zu seinem Wagen.
Selten hatte er eine so ruhige Nacht erlebt, und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit erwachte er vollkommen ausgeruht. Er stand lange vor seinem Kleiderschrank. Es war wichtig, dass er richtig gekleidet war, dieser Henrik sollte begreifen, dass er von einem Mann ausgestochen wurde, der ihm weit überlegen war. Es widerstrebte ihm, die hellblaue Strickjacke auszuziehen, in der er geschlafen hatte, denn er war sich im Klaren darüber, woher seine Ruhe gekommen war. Sie duftete noch immer schwach nach ihr, aber ihm war bewusst, dass sie nur eine vorübergehende Sicherheit bot.
Das Telefon klingelte.
Er sah auf seine Armbanduhr. Es war erst sieben. Wer rief um diese Zeit an einem Montagmorgen an? Erst als er den Hörer schon in der Hand hatte, merkte er, dass er noch nicht einmal die Klingeltöne gezählt hatte.
»Jonas.«
»Hallo, Jonas. Hier ist Yvonne Palmgren aus dem Karolinska.«
Er brachte kein Wort heraus, schnappte nur zornig nach Luft. Diesmal gedachte sie sich offensichtlich nicht unterbrechen zu lassen.
»Ich möchte, dass wir uns treffen, Jonas. Annas Beerdigung findet am Freitag statt, und es ist wichtig, dass Sie an dem Prozess teilnehmen.«
»Welcher Prozess? Wollen Sie, dass ich die Grube grabe?«
Er hörte sie tief durchatmen.
»Hier in der Krankenhauskapelle wird eine Begräbniszeremonie stattfinden, und ich hätte gern, dass Sie sich an der Gestaltung beteiligen. Wie sie gekleidet wird, welche Musik wir spielen sollen, die Blumen, den Sargschmuck, niemand weiß besser als Sie, was sie mochte.«
»Fragen Sie Dr. Sahlstedt. Seiner Ansicht nach konnte sie nicht einmal vor ihrem Tod etwas empfinden, es fällt mir also schwer zu glauben, dass sie sich plötzlich darum scheren sollte. Im Übrigen bin ich diese Woche vollauf beschäftigt.«
Er legte auf und stellte verärgert fest, dass ihn das Gespräch angegriffen hatte. Ihn gestört hatte. Die einzige Art, dagegen anzugehen, bestand darin, zurückzuschlagen. Er ging in den Flur, holte sein Notizbuch und zog den gelben Post-it-Zettel mit ihrer Telefonnummer heraus, den Dr. Sahlstedt ihm gegeben hatte. Sie ging nach dem ersten Klingeln an den Apparat.
»Hier ist Jonas. Ich wollte nur sagen, falls Sie oder jemand anders sich noch einmal meldet, um mir etwas über Anna mitzuteilen, dann werde ich ... Ich habe nicht die geringste Verpflichtung, was sie betrifft, ich habe verdammt nochmal mehr für diese verdammte Hure getan, als man verlangen kann. Begreifen Sie, was ich sage?«
Es dauerte, bis sie antwortete. Als sie endlich anfing, sprach sie ruhig, aber nachdrücklich, als wäre jedes Wort mit dem Rotstift unterstrichen. Ein verächtlicher Ton, als sei er ihr unterlegen.
»Jetzt begehen Sie einen großen Irrtum, Jonas.«
Die Abscheu, die er empfand, überwältigte ihn.
»Noch ein Wort, verflucht nochmal, und ich werde dafür sorgen, dass Sie ...«
Er unterbrach sich und bereute seine Worte im selben Augenblick, in dem er sie aussprach. Er durfte nicht dummdreist werden, durfte sich vor Leuten, die es nicht zu wissen brauchten, nicht anmerken lassen, dass er jetzt die Macht hatte. Sonst hätte es gegen ihn verwendet werden können.
Er legte den Hörer auf und stand eine Weile ganz still, um seine Ruhe zurückzugewinnen. Erst als er die hellblaue Strickjacke wieder angezogen und sich eine Weile aufs Bett gelegt hatte, gelang es ihm, sich so weit zu sammeln, dass er sich wieder seiner Garderobe zuwenden konnte. Trotzdem brauchte er eine gewisse Zeit, um die Gedanken an das unerwünschte Gespräch zu verdrängen.
Er kam eine halbe Stunde früher als verabredet zum Treffpunkt. Er wollte die Übersicht behalten, vorbereitet sein, ihn sehen und selbst bestimmen, wie und wann er den ersten Schritt unternahm. Er überlegte, ob er allein kommen oder die Hure mitbringen würde, im Grunde war es gleichgültig, aber er zog es vor, ihn allein zu treffen. Ihre Fähre würde erst um Viertel nach zehn abfahren, er hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher