Der Seitensprung
machte Anstalten, den Hörer abzunehmen. Es klingelte immer wieder, die beiden standen wie versteinert da und rührten sich nicht.
»Lass es klingeln.«
Er drehte sich unvermittelt um und eilte zum Telefon in der Küche. Als wären ihre Worte eine unmissverständliche Aufforderung gewesen, an den Apparat zu gehen.
»Ja, hier ist Henrik.«
Danach wurde es still. Es blieb so lange still, dass sie einen Blick durch die Küchentür warf. Wie vom Donner gerührt stand er da und starrte vor sich hin. Den Telefonhörer ans Ohr gepresst.
»Und wie geht es ihr? Wo liegt sie?«
Tief beunruhigt. Seine Mutter hatte vor einigen Monaten eine Bypassoperation hinter sich gebracht. Vielleicht ging es ihr wieder schlechter.
Dann drehte er langsam den Kopf herum und sah sie an. Nagelte sie mit einem Blick fest, der von so viel Abscheu und Feindschaft zeugte, dass sie Angst bekam. Ohne sie loszulassen, sprach er weiter: »Das kannst du ihr selbst sagen.«
Er reichte ihr den Hörer.
»Wer ist es?«
Er gab keine Antwort. Hielt ihr nur den Hörer hin.
Langsam ging sie auf ihn zu. Ein greifbares Gefühl von Gefahr überkam sie. Er starrte sie weiterhin an, als sie den Hörer ans Ohr legte.
»Hallo?«
»Hier ist Kerstin Evertsson aus der Kindertagesstätte Kortbacken.«
Förmlich und unpersönlich. Jemand, den sie nicht kannte. Oder jemand, der sie lieber nicht kennen wollte.
»Hallo.«
»Ich komme gleich zum Punkt. Wie ich deinem Mann bereits gesagt habe, ist mir bekannt, dass er und Linda Persson ein Verhältnis miteinander hatten, das gestern beendet wurde. Ich habe auch erzählt, dass Åsa Sandström einen anonymen Brief mit einem Zeitungsartikel über Linda bekommen hat und dass du diejenige warst, die ihn ihr in den Briefkasten gesteckt hat. Åsa hat dich dabei beobachtet.«
Lieber Gott, lass mich im Erdboden versinken. Lass mich das nicht erleben müssen.
»Natürlich musste ich Linda anrufen und ihr davon erzählen, auch wenn mir der Prozess und alles andere, was sie durchgemacht hat, bereits bekannt war. Aber für Linda war es mehr, als sie verkraften konnte. Sie liegt auf der Intensivstation im Söderkrankenhaus, nachdem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hat.«
Kurz begegnete sie Henriks Blick, bevor sie ihm wieder auswich.
»Meiner Meinung nach solltest du auch wissen, dass die Elterngruppe Geld für Blumen gesammelt hat und dass man Linda, falls sie durchkommt, inständig bitten wird, ihre Stelle nicht aufzugeben.«
Sie würde sich nie wieder in der Öffentlichkeit zeigen können.
»Tja, leider muss ich gestehen, dass ich nicht genau weiß, wie ich die restlichen Probleme handhaben soll. Axel zuliebe ist es natürlich selbstverständlich, dass er seinen Platz hier nicht verliert, aber ich persönlich finde es sehr schwierig, euch als Kunden zu behalten. Doch das ist eine Entscheidung, die ihr selbst treffen müsst.«
Hilf mir. Lieber Gott, hilf mir.
»Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Außerdem wäre es gut, du würdest dich bei Åsa Sandström melden, denn die möchte sich gern mit dir unterhalten und von dir wissen, warum du ausgerechnet sie in das Ganze mit hineingezogen hast. Denn jetzt ist ja allen klar, wer diese E-Mails verschickt hat, die angeblich von Linda sein sollten. Du begreifst sicherlich selbst, dass Åsa sich mit Recht ausgenutzt fühlt und deswegen, gelinde gesagt, empört ist.«
Sie bekam keine Luft.
Nicht auszuhalten.
»Wie du siehst, bin ich äußerst wütend über das, was du getan hast, ich würde lügen, wenn ich etwas anderes behauptete. Ich kann verstehen, dass es ein, tja, beschissenes Gefühl gewesen sein muss, als du gemerkt hast, dass Henrik und Linda etwas miteinander haben, aber das entschuldigt nicht, was du getan hast. Wir arbeiten hier den lieben langen Tag, um den Kindern beizubringen, was richtig und was falsch ist und dass man immer die Verantwortung für seine Taten übernehmen muss. Ich habe geglaubt, dich zu kennen, aber das war offensichtlich ein Irrtum.«
Die Scham war eine Schlinge. Immer enger mit jedem Wort. Sie war vernichtet, entehrt. Sie musste fort. Fort aus Nacka. Fort aus Schweden. Fort von jeglicher Gefahr, jemandem zu begegnen, der sie wieder erkannte und wusste, was sie getan hatte.
»Wird sie durchkommen?«
»Das weiß man noch nicht.«
Sie legte den Hörer zur Seite, vergaß, das Gespräch zu beenden. Henrik mit verschränkten Armen. Hasserfüllt, feindlich und für immer mit dem Recht auf seiner Seite.
Die Treppe hinunter.
Schuhe. Sie
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