Der Seitensprung
war mit Henrik? Fiel denn kein einziger Teil der Schuld auf ihn? Schließlich hatte er die ganze Kette ausgelöst, wenn nicht sogar ermöglicht.
Er stieg aus dem Wagen, und sie sah durch die Windschutzscheibe, dass er auf dem Weg zu ihrer geöffneten Tür war. Als er ankam, reichte er ihr die Hand.
»Komm jetzt. Nur einen Birnencidre. Sonst nichts.«
So durch und durch müde. Bis ins Mark. Einfach mitgehen, nicht entscheiden müssen.
»Okay, nur einen Birnencidre.«
Er nickte lächelnd.
»Nur einen Birnencidre.«
Sie übersah seine ausgestreckte Hand und stieg aus dem Auto, an ihm vorbei. Er ließ den Arm einen Augenblick zu lange in der Luft hängen, bevor er ihn langsam sinken ließ, ihre Autotür zuschlug und eine Plastiktüte aus dem Kofferraum holte.
Er ging auf seinen Hauseingang zu. Vielleicht war er verärgert, weil sie seine Hand nicht genommen hatte, sie hatte nicht unfreundlich wirken wollen, sie wollte ihm nur keine Andeutungen und nicht die geringste Hoffnung machen, dass er sich mehr erwarten könnte als das, was sie verabredet hatten. Einen Birnencidre. Sonst nichts. Er hatte es selbst gesagt, und sie hatte es akzeptiert.
Er schaltete das Licht im Treppenhaus ein und ließ ihr mit der Geste eines Gentlemans den Vortritt. Er ging einige Schritte hinter ihr. Ihn in ihrem Rücken zu wissen bereitete ihr leichtes Unbehagen, denn ihr war bewusst, dass er ihr Hinterteil gut im Blick hatte. Zur Schau gestellt und seinen Augen vollkommen ausgeliefert, die gucken konnten, wohin sie wollten. Sie stellte sich mit dem Rücken an die Wand, während er die Tür aufschloss. Vier Schlösser.
Voriges Mal. Ihre Nervosität und wie sie sich an ihn gepresst hatte, um sie zu verheimlichen. Wie die Bilder von Henrik und Linda sie ihr Unbehagen überwinden ließen.
Vor fünf Tagen.
Hinter der Tür blieb sie stehen und hörte, wie er einen Schlüssel in eines der Schlösser steckte und umdrehte. Und dann das Klappern des Schlüsselbundes, als er die anderen drei abschloss, und das Rascheln der Tüte aus dem Kofferraum.
Und plötzlich erinnerte sie sich, dass er glaubte, sie hieße Linda. Dass die Tarnung ihr an dem Abend den Mut verliehen hatte, ihre Absichten in die Tat umzusetzen.
Wenn bloß nicht.
Noch eins.
Aber es gab jetzt keinen Anlass, ihren richtigen Namen preiszugeben. Das hätte nur Fragen heraufbeschworen, die sie nicht beantworten wollte.
»Herzlich willkommen. Willkommen zurück, sollte ich vielleicht sagen.«
Sie war nicht zurückgekommen. Diejenige, die vor ihm stand, war zum ersten Mal hier.
Sie sah auf ihre Schuhe hinunter, als wäre es eine unüberwindliche Aufgabe, sich hinunterzubeugen und sie auszuziehen. Er folgte ihrem Blick, hockte sich nieder und zog vorsichtig die Reißverschlüsse an den Innenseiten ihrer Knöchel hinunter. Legte ihre Hand auf seine Schulter, damit sie sich abstützen konnte, während er ihr die Schuhe auszog. Ihren rechten Fuß hielt er einen Moment zu lange, sie konnte plötzlich seinen Atem hören. Sie wagte nicht, sich zu widersetzen, stand einfach da mit der Hand auf seiner Schulter und ließ ihn ihren rechten Fuß umfassen. Sie hätte nicht hier sein sollen. Sie hätte wieder gehen sollen. Aber wohin? Und wie sollte sie die Kraft aufbringen?
Er stand auf und nahm sie fürsorglich am Ellbogen, führte sie in die kleine Küche und setzte sie auf einen der Stühle. Mit dem Blick folgte sie ihm die zwei Schritte bis zum Kühlschrank und sah dessen Inhalt aufblitzen, als er die Tür öffnete. Jedes Fach mit identischen Cidreflaschen gefüllt. Er nahm zwei heraus, zog das Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete sie mit einem roten Flaschenöffner, der zwischen den Schlüsseln klemmte. Dann blieb er mit den Flaschen stehen, legte den Kopf schräg und betrachtete sie.
»Wie geht es dir eigentlich?«
Sie war unfähig zu antworten.
»Ich habe ja kein Sofa, aber du darfst dich gern in meinem Zimmer aufs Bett setzen. Ich meine nur, da sitzt es sich ein bisschen schöner, sonst nichts, du siehst nämlich so aus, als könntest du es gebrauchen, ich kann auf dem Boden sitzen.«
»Hier ist es gut.«
Er ging zum dem Stuhl auf der anderen Seite des an der Wand befestigten Klapptisches, beugte sich nach vorn und reichte ihr die eine Cidreflasche.
»Auf dein Wohl. Nochmal, könnten wir sagen.«
Er lächelte, und sie griff nach der Flasche und trank.
»Das ist die Sorte, die du magst, was?«
Sie studierte das Flaschenetikett. Konnte nicht feststellen, ob diese
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